Das digitale Vermächtnis – Die Stille vor dem Klick (22.09.2016)

21.05.2025

Kapitel 1: Der Schatten im Schulflur

Der Wecker hatte um sechs Uhr dreißig geklingelt, doch Lena war schon lange davor wach gewesen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, ein vertrautes Würgen, das nichts mit Hunger zu tun hatte, sondern mit der bevorstehenden Schulstunde. Seit Monaten war das ihre Realität. Ein krampfiges Ziehen, das sich wie eine kalte Kralle bis in die Schulter zog und ihr den Atem nahm, sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Gardinen fielen.

Sie schälte sich aus dem Bett. Das kleine, bunte Poster von Amy Winehouse an ihrer Wand war das Erste, was sie sah. "Rehab" lief leise auf ihrem MP3-Player, fast unhörbar, doch die raue Melancholie der Sängerin war für Lena ein stummer Begleiter. Amy war im Sommer 2011 gestorben, und für Lena war es, als hätte ein kleiner Teil ihrer eigenen Welt aufgehört zu existieren. Eine Künstlerin, die so viel Gefühl, so viel verstandenes Leid in ihrer Stimme hatte, und doch so zerbrechlich war. Lenas Finger fuhren über das laminierte Konzertticket, das sie neben dem Poster angeklebt hatte – ein Geschenk ihrer Tante, das sie nie einlösen konnte. Amy verstand sie, das war sich Lena sicher. Amy hätte verstanden, wie es war, wenn man anders war und die Welt einen dafür bestrafte.