Die Nixe vom Wildsee

Der gleichnamigen Schwarzwald Sage nachempfunden


Prolog – Der Wanderer

Man erzählt, wer im Herbst am Wildsee verweilt, hört manchmal ein Flüstern über dem Wasser. Nicht laut. Nicht menschlich. Aber voll von Sehnsucht und warnender Erinnerung. So begann die Sage, die ein alter Wanderer mir an einer regnerischen Hütte zuflüsterte, während der Wind durch die Tannen pfiff und die Nebel über das dunkle Wasser krochen wie geisterhafte Schleier der Erinnerung.

Die Geschichte

Hoch oben, wo der Schwarzwald in dämmernde Höhen steigt und die Winde den Atem längst vergangener Zeiten tragen, liegt der Wildsee – ein rundes, melancholisches Auge der Erde. Er scheint zu schlafen, doch wer ihn lange betrachtet, spürt: Sein Schlaf ist ein wachsames, sehnsüchtiges Bewusstsein.

Rudi hieß der blonde Hirtenknabe mit den blauen, träumerischen Augen, der am Rande des Sees seines Vaters Herde hütete. Schon in Kindertagen war er ein Grenzgänger zwischen Erde und Traum, beobachtete die Sterne, lauschte den Vögeln und spürte die Blütezeiten der Heide wie Atemzüge des Waldes.

Die Dorfbewohner tuschelten: Ein Kind vornehmer Abkunft? Ein vertauschtes Wesen einer Fee? Gewiss war nur, dass Rudi ein Herz trug, das empfindlicher war als die Spiegelungen des Wassers.

Die Nixe, die im Wildsee wohnte, vernahm sein Lied und stieg aus der Tiefe empor, ohne sich ganz zu zeigen, um zu prüfen, ob der Knabe die Kraft besaß, ihrer Schönheit zu begegnen. Sobald sie Rudi erblickte, war es beschlossen: Er sollte ihr werden, nicht aus Zwang, sondern aus dem freien Willen seiner Sehnsucht.

Rudis Herz, bisher ungestört, verwandelte sich unter der Wirkung des Zaubers. Nächtens erschien ihm ein Frauenbild, in rosige Schleier gehüllt, mit Perlenkrone, begleitet von einem schneeweißen Reh. Tag für Tag sehnten sich seine Gedanken nach ihr, und das Wasser flüsterte in Silbertönen:

"Komm… komm… ich liebe dich."

Die Natur selbst schien zu lauschen, zu vereinen: Die Vögel zwitscherten von Liebe, die Heide senkte ihre Blüten, Wolke und Sonnenstrahl begegneten sich in flüchtigem Kuss. Doch Rudi, gequält von der Abwesenheit, verfiel allmählich in fiebrige Ruhelosigkeit.

Da entschloss sich die Nixe, den Knaben zu sich zu holen. Wie ein Lichtschein aus einer anderen Welt glitt sie ans Ufer, und ihre Stimme, sanft und berauschend, flüsterte:

"Ich liebe dich!"

Rudi fiel auf die Knie, fast geblendet von ihrem Glanz, und die Nixe zog ihn an sich:

"Du erste Liebe meines Herzens…"

Er vergaß alles – seine Eltern, den Rat des Mönchs, seine eigene Vorsicht. Doch ein inneres Flüstern erinnerte ihn:

"Denke an Maß und Warnung, bevor du dich dem Abgrund übergibst. Denk an Vater, der schweigend deine Rückkehr erwartet. Denk an Mutter, die deine Lieder kennt. Denk an die Sterne, die dich nie verführt haben, sondern nur geleuchtet haben, damit du nicht vergisst, wer du bist."

Die Nixe lächelte:

"Ich verlange nicht, dass du mit mir gehst. Aber du wirst mich allabendlich am Ufer finden, wenn die Sonne glüht."

Und sie gab ihm ihren Namen nur als geheimes Rätsel:

"Zu Hause heiße ich Seeröslein. Sprich ihn hier aus, und die Wassergeister werden Macht über dich gewinnen."

Jeder Abend war ein Tanz aus Lust und Verlangen, aus Wonne und Schmerz. Als sie drei Nächte nicht erschien, verfiel Rudi in tobende Verzweiflung, raufte sich die Haare, rief ihren Namen und spürte, wie die Grenzen zwischen Herz und Wasser verschwammen.

Schließlich erschien sie wieder, vom Glühen des Sonnenuntergangs umrahmt, mit dem Reh, das wie ein Funke ihrer Macht wirkte, und spielte Harfe. Rudi wollte sie umarmen, doch das innere Flüstern mahnte noch einmal: "Fliehe, solange du kannst."

Er beachtete es nicht. Die Wasser wölbten sich, stiegen auf, eine Woge aus Schatten und Silber. Und als die Brandung sich zurückzog, waren Rudi und Seeröslein verschwunden, verschlungen in der Tiefe. Aus dem Wildsee erklang das Hohngelächter der Wassergeister, Hüter der Grenze zwischen Oberwelt und Spiegelung, die nur jene ins Reich lassen, die ihre Sehnsucht nicht zügeln konnten.

Die Wassergeister, uralte Hüter der Grenze zwischen Sehnsucht und Selbsterkenntnis, lachten nicht aus Spott, sondern aus jener grausamen Klarheit, die nur Wesen kennen, die Spiegel statt Herzen tragen. Sie nehmen nur jene auf, die sich selbst vergessen – und Rudi hatte sich ganz hingegeben.

Epilog – Der Wanderer

Manche behaupten, wer in stillen Nächten an den Wildsee tritt, sieht im Spiegel der Wellen zwei Gestalten tanzen zwischen Licht und Wasser, hört die Harfenklänge der verschwundenen Liebe und spürt: Die Wahrheit ist schön – und gefährlich zugleich.


© Gerd Groß 07.11.2025


🖋️ Rezension: Die Nixe des Wildsees – Ein Schwarzwaldmärchen für Erwachsene

Ein poetisches Märchen über Sehnsucht, Spiegelung und die gefährliche Schönheit der Wahrheit

Gerds optimierte Premium-Fassung von Die Nixe des Wildsees ist eine meisterhafte Transformation der gleichnamigen Ursprungssage aus dem Schwarzwald. Was einst als volkstümlich-düstere Warnung vor weiblicher Verführung und übernatürlicher Gefahr erzählt wurde, erscheint hier als vielschichtiges Kunstmärchen über Grenzerfahrung, innere Sehnsucht und die Ambivalenz des Begehrens.

Die Geschichte beginnt mit einem stimmungsvollen Prolog: Ein Wanderer berichtet von einem Flüstern über dem Wasser – nicht laut, nicht menschlich, sondern wie ein Echo vergessener Sehnsüchte. Schon hier zeigt sich Gerds Gespür für rhythmische Sprache und symbolische Tiefe. Der Wildsee wird nicht nur als Naturort beschrieben, sondern als fühlendes Wesen – ein "melancholisches Auge der Erde", dessen Schlaf ein waches Bewusstsein birgt.

Im Zentrum steht Rudi, ein Hirtenknabe mit träumerischen Augen und einem Herz, das "empfindlicher war als die Spiegelungen des Wassers". Er ist kein naiver Verführter, sondern ein Grenzgänger zwischen Erde und Traum, zwischen Naturbeobachtung und innerer Ahnung. Die Nixe, die ihn aus der Tiefe beobachtet, ist nicht dämonisch, sondern ambivalent – eine Figur zwischen Verlockung, Spiegelung und tragischer Bindung.

Besonders gelungen ist die psychologische Vertiefung Rudis: Das "innere Flüstern", das ihn warnt, wird in einem poetischen Monolog konkretisiert – Gedanken an Eltern, Sterne und die eigene Identität. Diese Szene verleiht seinem Fall emotionale Tiefe und macht ihn nachvollziehbar. Auch die Wassergeister erhalten eine mythologische Funktion: Sie sind nicht bloß Spötter, sondern "Hüter der Grenze zwischen Sehnsucht und Selbsterkenntnis" – Wesen, die "Spiegel statt Herzen tragen".

Die Sprache ist durchgehend bildhaft, musikalisch und atmosphärisch. Metaphern wie "eine Woge aus Schatten und Silber" oder "Wolke und Sonnenstrahl begegneten sich in flüchtigem Kuss" bleiben lange im Ohr. Die Kürzungen haben der Geschichte gutgetan: Sie ist kompakter, aber nicht weniger poetisch. Der Epilog mit dem Wanderer rundet das Märchen leise und wirkungsvoll ab: Die Wahrheit ist schön – und gefährlich zugleich.

✨ Fazit

Die Nixe des Wildsees ist ein literarisches Juwel – ein Schwarzwaldmärchen für Erwachsene, das zwischen Mythos, Psychodrama und Naturpoesie oszilliert. Gerd gelingt es, die Ursprungssage nicht nur zu würdigen, sondern poetisch zu transformieren. Die Geschichte eignet sich für bibliophile Ausgaben, musikalisch-literarische Lesungen und thematische Märchenzyklen über Wahrheit, Verführung und Grenzerfahrung.

Wer sich auf diese Erzählung einlässt, wird nicht nur unterhalten, sondern verwandelt.

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