Die Blaue Blume vom Mummelsee

Ein neu erzähltes Schwarzwaldmärchen für Erwachsene


Prolog – Der Wanderer

Man sagt, wer im Herbst am Mummelsee verweilt, hört manchmal eine Stimme über dem Wasser. Nicht laut. Nicht menschlich. Aber voller Erinnerung.
So begann die Geschichte, die mir ein alter Wanderer an einer regnerischen Abendhütte zuflüsterte, während das Holz im Kamin knackte und die Nebel über den See krochen wie vergessene Träume, die noch einmal atmen wollen.

Die Geschichte

Hoch oben, wo der Schwarzwald in dämmernde Höhen steigt und die Winde den Atem längst vergangener Zeiten tragen, liegt der Mummelsee – ein rundes, schwarzes Auge der Erde. Er scheint zu schlafen, doch wer ihn lange genug betrachtet, spürt: Dieser Schlaf wacht.

Man sagt, in seinen Tiefen lebe ein König aus Wasser und Stein, ein uralter Herrscher mit Bart aus perlendem Licht. Sein Blick soll die Stille tragen, die nur Orte kennen, an denen Zeit nicht vergeht.
Er wohnt in einem Palast aus Muscheln, und um ihn tanzen seine Töchter – Wasserfrauen, zart wie Mondglanz auf frischem Schnee.

Elsa war neugierig, sehnsüchtig – und empfänglich für jene Liebe, die nur in Wesen wächst, die aus zwei Welten stammen.
Sie stand oft am Ufer, als lausche sie einem Ruf, den kein Mensch hören konnte.

Albrecht schwor, nie eine andere zu lieben. Doch Menschenworte sind wie Wind: Sie halten nur, solange der Wind nicht dreht.
In seinem Herzen wohnte Bewunderung, aber auch Besitz – und dieses zweite Gefühl fraß das erste langsam auf.

Die Seelilie, die an jenem Morgen auf dem See trieb, schloss ihren Kelch. Die Wasser wurden rot wie das Kleid einer Trauernden.

Uli hatte Elsa geliebt – still, hoffnungslos, aber mit jener Glut, die nur Herzen kennen, die nie gesehen werden.
Er sah sie oft mit Albrecht – und in seinem Schweigen brannte eine Frage, die niemand beantworten konnte:
Warum liebt das Licht nie den Schatten, der es trägt?

Er schwor Rache. Nicht laut. Nicht wild.
Sondern still.
Und das ist die gefährlichste Art.

Die Rückkehr

Stattdessen hob sich eine riesige Muschel aus dem Dunkel – getragen von zwei Armen – und ein hässlicher kleiner Mann reichte dem Tier den Trank.
Uli.
Und der Zwerg war keiner, wie man sie aus Kindergeschichten kennt – sondern ein Wesen aus den alten Gängen, wo das Gestein noch das Glühen der ersten Schmiede bewahrt.

"Halte sie in der linken Hand", sagte der Zwerg, "und kein sterbliches Auge sieht dich mehr. Doch bedenke: Unsichtbarkeit trägt ihren Preis."

Im großen Saal saß Hertha, sein schönes, junges Weib – und neben ihr kniete Albrecht von Hohenhorst.
Der gleiche Albrecht, der einst Elsa verraten hatte.
Sein Blick suchte Herthas Hand mit derselben Geste, mit der er früher Elsa getröstet hatte – ein Verrat, der sich wiederholte, wie ein Muster im Wasser.

Da riss der Ritter sein Schwert von der Wand.
Unsichtbar, geführt von Schmerz und Ehre, stellte er sich dem Verräter.
Jeder Schritt war schwer wie ein unausgesprochenes Wort, das endlich Form fand.

Und der Freiherr sprach mit einer Stimme, die schwerer wog als jedes Urteil:

"Ich lebe – doch nicht mehr für diese Welt. Möge Reue dein Schatten sein."

Epilog – Der Wanderer

Und es gibt jene, die in stillen Nächten glauben, unten im Wasser einen Mann zu sehen, der neben den Undinen sitzt und ihre Lieder hört, ohne je selbst eines zu singen.
Manchmal scheint er zu lauschen, als könnte ein einziger Ton ihn zurückrufen – doch keiner tut es.

Doch wer sie findet, sagt man, sollte auf sein Herz achten – denn was sie sichtbar macht, ist nicht die Welt, sondern die Wahrheit. Und die ist nicht immer das, was man zu sehen wünscht.

"Aber wenn du morgen am See bist und das Wasser sich ohne Wind bewegt — dann grüß den Wasserkönig von mir. Und horch gut hin – denn Wasser verschweigt nichts."


© Gerd Groß 07.11.2025


🖋️ Rezension: Die Blaue Blume vom Mummelsee

Ein Schwarzwaldmärchen über Wahrheit, Verrat und die Sehnsucht zweier Welten

Mit Die Blaue Blume vom Mummelsee gelingt Schriftsteller Gerd Groß eine poetisch verdichtete Neuerzählung der alten Schwarzwaldsage Der Mummelsee, die einst in düsterer Prosa von tödlichen Strudeln, verführerischen Undinen und rächenden Zwergen berichtete. Was dort noch als moralisierende Warnung vor menschlicher Treulosigkeit und übernatürlicher Vergeltung erscheint, verwandelt sich hier in ein vielschichtiges Kunstmärchen über Liebe, Erinnerung und die gefährliche Kraft der Wahrheit.

Die Geschichte ist in eine atmosphärisch dichte Rahmung eingebettet: Ein Wanderer am Kamin erzählt von Stimmen über dem Wasser, von Nebeln, die wie vergessene Träume atmen wollen. Schon hier zeigt sich Gerds Gespür für rhythmische Sprache und symbolische Tiefe. Der Mummelsee wird nicht nur als geographischer Ort beschrieben, sondern als mythisches Wesen – ein "schwarzes Auge der Erde", das schläft und zugleich wacht.

Im Zentrum steht Elsa, eine Wasserfrau, deren Sehnsucht nach menschlicher Nähe sie in die Arme des Ritters Albrecht führt. Doch was für sie Hingabe bedeutet, ist für ihn nur flüchtige Bewunderung. Der Verrat, der folgt, ist nicht laut, sondern leise – und gerade darin liegt seine Tragik. Schriftsteller Gerd Groß zeichnet Elsa nicht als naive Nixe, sondern als Wesen zwischen den Welten, verletzlich und wahrhaftig.

Besonders eindrucksvoll ist die Figur des Uli, eines missgestalteten Dieners des Sees, der Elsa liebt mit jener stillen Glut, die nur Herzen kennen, die nie gesehen werden. Sein Racheakt – die Übergabe der blauen Blume an den heimkehrenden Freiherrn – ist kein Ausbruch, sondern ein Ritual der Wahrheit. Die Blume macht nicht unsichtbar, sondern sichtbar: Sie enthüllt, was Menschen lieber verborgen halten.

Der Showdown im Saal, in dem der Freiherr unsichtbar Zeuge des Verrats wird, ist dramatisch und zugleich tief melancholisch. Der Schwertkampf zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem ist nicht nur ein Duell, sondern ein Gleichnis für die Konfrontation mit dem Unaussprechlichen. Am Ende verlässt der Freiherr die Welt – nicht tot, sondern verwandelt – und wird selbst Teil der Sage.

Gerds Sprache ist durchgehend bildhaft, musikalisch und von hoher literarischer Qualität. Metaphern wie "Menschenworte sind wie Wind" oder "Warum liebt das Licht nie den Schatten, der es trägt?" bleiben lange im Ohr. Die Erzählung ist nicht nur ein Märchen, sondern ein poetisches Nachdenken über Wahrheit, Erinnerung und die Zerbrechlichkeit menschlicher Bindung.

🧭 Fazit:

Die Blaue Blume vom Mummelsee ist eine gelungene Transformation der klassischen Sage Der Mummelsee in ein modernes Kunstmärchen für Erwachsene – zart, düster und philosophisch. Schriftsteller Gerd Groß bewahrt die mythische Tiefe des Originals, erweitert sie aber um psychologische Feinfühligkeit und poetische Resonanz. Die Geschichte eignet sich für Lesungen, Hörspiele und bibliophile Ausgaben. Wer sich auf sie einlässt, wird nicht nur unterhalten, sondern verwandelt.

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