Der Junge von Nebenan
Kapitel 10: Rückfall oder Neuanfang?
Der Dienstag wurde zu Leos neuem Samstag.
Nicht, weil er frei hatte – sondern weil er sich frei fühlte.
Nach der Meldung auf dem Revier bog er nicht wie sonst Richtung Seniorenheim ab, sondern machte einen kleinen Umweg.
Vor dem Abendrot wartete Herr Weber schon – aufrecht im Rollstuhl, die feinste Strickjacke übergeworfen, Perlmuttknöpfe blank poliert, ein Lächeln im Gesicht, das Leo so noch nie gesehen hatte.
Offen. Erwartungsvoll. Fast kindlich in seiner Freude.
Ein seltsames Gefühl begleitete Leo, als er den alten Mann durch die Flure schob.
Die Blicke der Pflegekräfte folgten ihm – neugierig, fragend.
Frau Wagner begegnete ihm mit einem Nicken.
Es war ein stilles Zeichen – irgendwo zwischen Überraschung und Anerkennung.
Kein Kommentar. Kein Tadel. Nur dieses kurze Innehalten, das mehr sagte als Worte.
Leo wurde rot. Aber er lächelte.
Die Fahrt zur Halle war eine kleine Reise.
Der Rollstuhl klapperte auf dem unebenen Gehweg, Rillen und Steine ließen ihn erzittern, doch Herr Weber hielt sich tapfer.
Er sah sich um wie einer, der nach Jahren in einem dunklen Raum plötzlich Licht sieht.
Die Häuser, das Laub, der Himmel – alles wurde eingesogen, als sei es ein Fest für die Sinne.
Leo spürte es auch.
Diese Freiheit, die zwischen den alten Pflastersteinen aufstieg.
Sie lag in der Bewegung. In der Luft. In Webers ruhigem Lächeln.
In der Turnhalle parkte Leo ihn am Rand der Matte.
Die Geräuschkulisse war überwältigend: das dumpfe Klatschen von Füßen auf Boden, das Rufen des Trainers, das angestrengte Atmen der Trainierenden.
Herr Weber zuckte kurz, dann lehnte er sich zurück – beobachtend, still, mit gespannter Neugier.
Leo trainierte härter als je zuvor.
Er spürte Herrn Webers Blick – und er wollte ihm etwas zeigen.
Nicht Tricks, keine Illusion.
Sondern etwas Echtes.
Das, was er sich aufgebaut hatte:
Beharrlichkeit. Disziplin. Würde.
David beobachtete Leo aus der Ferne, ohne einzugreifen.
Seine Präsenz war wie immer ruhig – kein Antreiben, kein Lob. Nur ein Blick, der sagte: Ich sehe dich.
Und das reichte.
Nach der Einheit, durchgeschwitzt, atemlos, trat er an Webers Seite.
Der alte Mann nickte langsam.
"Das ist gut, mein Junge. Das ist… Kraft. Von innen.
So etwas sieht man nicht alle Tage."
Diese neuen Rituale – das Training, die Gespräche, das Vertrauen – begannen, einen Raum in Leo zu schaffen.
Einen inneren Ort, der still war.
Und stark.
Die Straße war noch da.
Aber sie wurde leiser.
Für einen Moment.
Doch die Nacht hat ein langes Gedächtnis.
Als Leo an jenem Abend vom Training heimlief, vibrierte sein Handy.
Eine Nachricht. Von Chiko.
"Wo steckst du, Mann? Wir haben was am Laufen. Großes Ding. Treffen an der alten Brücke. Mitternacht. Wird fett."
Leos Magen verkrampfte sich.
"Großes Ding" bedeutete immer: mehr Risiko, mehr Dreck, mehr Sumpf.
Die Brücke – ein Ort aus alten Zeiten. Treffpunkt. Fluchttunnel. Schattenzone.
Wie ein Echo, das ihn zurückrufen wollte.
Seine Finger schwebten über dem Display.
Ein Teil von ihm wollte.
Den Rausch, das schnelle Geld, das dunkle Spiel.
Es war vertraut. Einfach.
Und es versprach: Du gehörst irgendwohin.
Aber dann… kamen Bilder.
David. Ruhig. Wach.
Herr Weber.
"Kraft von innen."
Die Halle. Die Schläge. Der Schweiß. Der Stolz.
Er hatte etwas aufgebaut.
Etwas, das ihm gehörte.
Nicht durch List. Nicht durch Betrug.
Sondern durch Arbeit. Wiederholung. Haltung.
Und zum ersten Mal in seinem Leben war das nicht nur ein Ziel.
Es war ein Grund.
Er tippte:
"Bin raus. Hab andere Sachen am Laufen."
Die Antwort kam sofort.
Zorn. Emojis. Drohungen.
"Was? Bist du weich geworden? Du gehörst zu uns, Leo! Man verpisst sich nicht einfach!"
Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Er wusste: Das war nicht das Ende.
Die Straße ließ nicht locker.
Sie wartete, lauerte.
Wie eine alte Schuld, die nicht verjährt.
Aber Leo stand da.
Zwischen zwei Welten.
Und auch wenn die alte Welt noch drängte –
die neue hatte einen Namen:
Neuanfang.
© 14.07.2025 Gerd Groß