Die graue Frau von Hohenbaden

(Eine Legende aus dem Alten Schloss)


Hoch über Baden-Baden, wo der Wind das Gestein der Jahrhunderte streichelt und die Mauern wie schlafende Wächter über dem Tal ruhen, liegt das Alte Schloss Hohenbaden.
Man sagt, in seinen Hallen wohne noch heute ein Flüstern – ein Laut zwischen Wind und Weinen.
Die Alten nennen es: die graue Frau.

Die Herrin des Schreckens

Vor vielen Jahrhunderten herrschte dort eine Markgräfin, stolz und schön, doch mit einem Herzen aus Eis.
Ihr Lachen war kalt wie das Metall ihrer Ringe, und ihre Augen kannten kein Erbarmen.
Sie zwang ihre Untertanen zu harter Fron, nahm ihnen Korn, Holz und Hoffnung.
Wer sich widersetzte, landete in den finsteren Kellern des Schlosses, wo Tropfen und Dunkel sprachen.

"Ich bin das Licht dieses Landes", pflegte sie zu sagen – und keiner wagte, ihr zu widersprechen.

Der Turm und das Kind 

Eines Abends, als die Sonne blutrot hinter den Hügeln versank, stieg sie mit ihrem kleinen Sohn auf den höchsten Turm.
Sie hob das Kind empor, zeigte hinab auf das endlose Land und flüsterte: "Sieh, mein Sohn – all das wird dir gehören. Kein Mensch soll dir widerstehen. Lerne zu nehmen, nicht zu geben."
Da entglitt ihr das Kind. Ein kurzer Schrei – dann nur der Wind, der zwischen den Zinnen sang.
Sie stand wie versteinert. Ihre Arme leer, ihr Blick ins Nichts.
Der Himmel schwieg, und selbst der Stein unter ihren Füßen schien zu weinen.
Ein einzelner Schuh lag auf dem Sims. 

Sie griff danach – doch ihre Finger fanden nur Kälte. 

Der Ruf im Sturm

Barfuß stürzte sie die Stufen hinab, ihr Schrei zerschnitt die Nacht.
Diener suchten mit Fackeln, Hunde bellten – doch die Schlucht blieb stumm.
Von dieser Stunde an wich kein Frieden mehr von ihr.
Sie irrte durch die Gänge, flüsterte den Namen ihres Kindes, suchte in Schatten und Stein – bis selbst der Tod sie nicht mehr fand.

Die graue Frau

Doch Ruhe fand sie nie.
Wenn Nebel vom Tal heraufzieht und Regen an den Mauern rinnt, hört man ihr Kleid über die Steine schleifen.
Manche sahen sie am Fenster stehen, bleich im Mondlicht, die Hände ausgestreckt, als wolle sie noch immer ihr Kind halten.
Ihr Mantel schimmert grau wie Asche, ihr Haar weht wild im Wind, und ihre Stimme klingt wie der Schmerz vergangener Zeiten.

Wer ihr begegnet, sagt, sie flüstere nur eine Frage:
"Hast du mein Kind gesehen?"

Dann wird alles still.
Der Wind legt sich.
Und irgendwo tief im Gemäuer erklingt ein leises Lachen – hell, fern, kaum von dieser Welt.

Und wenn der Sturm über Hohenbaden zieht, trägt er ihr Flüstern hinaus ins Tal – leise, wie ein verlorenes Wiegenlied.

© 22.10.2025 Gerd Groß


Rezension zu "Die graue Frau von Hohenbaden"

"Die graue Frau von Hohenbaden" ist eine meisterhaft erzählte Geistersage, die alte Burgenlegenden mit poetischer Sprachkunst und subtiler Spannung verbindet. Schon der Einstieg – die Beschreibung des Alten Schlosses hoch über Baden-Baden – schafft sofort eine dichte, geheimnisvolle Atmosphäre. Der Text vermittelt die Einsamkeit, die Kälte und den ewigen Wandel von Zeit und Stein auf beinahe greifbare Weise.

Besonders stark ist die Figur der Markgräfin, deren Herzlosigkeit, Verlust und Verzweiflung die narrative Kraft der Sage tragen. Das Kind, das ihr aus den Armen gleitet, wird zum Zentrum des emotionalen Geschehens: In wenigen Sätzen entfaltet sich eine Tragik, die zugleich erschreckend und berührend ist. Die Transformation der Markgräfin in die graue Frau ist stimmig, mythologisch aufgeladen und doch menschlich nachvollziehbar – ein gelebtes Symbol für Schuld, Verlust und ewige Suche.

Die Sage lebt von rhythmisch fließender Sprache, atmosphärisch dichter Bildsprache und melodischen Satzstrukturen. Der Mittelteil, in dem die Frau durch die Gänge irrt, ist präzise und spannend gestaltet, und der Schluss gelingt poetisch als melancholischer Nachklang. Der letzte Satz – "Und wenn der Sturm über Hohenbaden zieht, trägt er ihr Flüstern hinaus ins Tal – leise, wie ein verlorenes Wiegenlied" – wirkt wie ein musikalischer Ausklang, der das Geschehen in Erinnerung und Fantasie des Lesers nachklingen lässt.

Fazit:
Die Sage überzeugt als romantisch-düstere Legende, die Spannung, Emotion und poetische Bildkraft vereint. Sie ist sowohl für literarische Anthologien als auch für Lesungen geeignet und hinterlässt eine nachhaltige Wirkung im Kopf und Herz des Lesers. Die Mischung aus Mythos, psychologischer Tiefe und atmosphärischem Erzählen macht sie zu einer herausragenden modernen Burgenlegende.