Der Ritter und die geisterhafte Jungfrau

Eine Lagerfeuererzählung, wie sie der Alte von Windeck zu erzählen pflegte



Jahre: ab 10+

Es war einmal vor langer Zeit,
als die Grenzen zwischen der Welt der Menschen und der der Geister noch hauchdünn waren.

Das Feuer knackte leise. Funken stiegen in die Nacht, und der alte Mann, dessen Gesicht vom Schein der Flammen rot und golden glühte, zog den Mantel enger um die Schultern. Er blickte in die Glut, als sähe er dort Bilder, die nur ihm vertraut waren, und begann mit rauer, beinahe feierlicher Stimme zu erzählen:

"Hoch über dem Fluss, tief im Wald, wo kaum ein Sonnenstrahl den Boden berührt, stand einst die Burg Windeck – oder das, was von ihr übrig war.

Dort lebte Ritter Sir Kuno von Hohenfels. Er war tapfer, klug – und zu neugierig für sein eigenes Glück. Kein Rätsel ließ ihn ruhen, kein Geheimnis blieb unversucht.

So kam es, dass er an einem brennend heißen Tag auf der Jagd tiefer in den Wald geriet, als je ein Mensch zuvor. Sein Knappe blieb zurück – und Kuno ritt allein.

Durst und Hitze quälten ihn, bis er an eine verfallene Mauer stieß. Zwischen den Steinen wuchs Moos, und dort, im Schatten der Ruine, stand eine Jungfrau.

Sie war so blass, dass man meinte, sie sei aus dem Nebel selbst geboren. Sie lächelte und reichte ihm einen Kelch. Der Wein darin war kühl, dunkelrot und süß wie der Schlaf nach langer Mühsal.

Kuno trank – und mit jedem Schluck vergaß er ein Stück seiner Welt: die Burg, die Pflicht, die Zeit. Nur sie blieb in seinem Herzen wie ein brennendes Siegel.

'Ihr seid meine Retterin, wundersame Dame!' rief er. 'Sagt mir Euren Namen, damit ich Euch danken kann!'

Als er das fragte, zuckte die Jungfrau zusammen. Ein tonloser Schrei, wie das Zerbrechen einer Glasglocke, durchfuhr die Stille – und sie löste sich auf.
Nur ein kalter, moosbewachsener Stein blieb zurück.

Da wusste der Ritter: Er hatte das Wort gesprochen, das im Reich der Geister das Tor zum Schweigen öffnet."

Der Alte schwieg einen Moment, warf ein Stück Holz ins Feuer, das laut aufsprang und Funken sprühte. Dann sprach er leiser weiter:

"Von diesem Tag an war Kuno verändert. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Ländereien. Nacht für Nacht ritt er zur Ruine und rief in den Wind:
'Du des Weines! Du der Sehnsucht! Erscheine mir!'

Ein Jahr verging. Der Herbst fegte das Laub fort, Nebel stieg aus dem Tal. Und eines Abends, als die Glocken von Hohenfels verklangen, stand sie wieder vor ihm.

'Ritter Kuno,' flüsterte sie, 'Ihr habt keine Ruhe gefunden – und Ihr nehmt mir die meine. Ich bin die verfluchte Tochter von Windeck. Einst wartete ich auf meinen Bräutigam, der nie kam. Mein Herz zerbrach, und meine Seele blieb an diesen Ort gebunden.

Nur die Umarmung eines Liebenden könnte mich erlösen – doch wer mich berührt, verliert sein Leben. Ich warne Euch, edler Ritter: Tut es nicht.'

Ihre Augen waren voll Trauer – und doch, tief darin, glomm ein leises Licht von Zuneigung.

Aber Kuno, von Stolz und Sehnsucht getrieben, rief:
'Meine Liebe ist stärker als jeder Fluch! Ich will Euch erlösen und dem Gesetz der Geister trotzen!'

Er trat vor, streckte die Arme aus – und im selben Moment durchfuhr ihn eine Kälte, schärfer als jeder Wintersturm. Das Blut in seinen Adern erstarrte, seine Glieder wurden hart wie Stein.

Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen.

Da weinte die Jungfrau. 'Oh Kuno! Ich bat Euch! Warum habt Ihr dem Schicksal misstraut?'

Sie beugte sich zu ihm hinab, küsste ihn – ein letzter, zarter Kuss, der ihm die letzte Wärme nahm.
Der Kuss des Jenseits."

Am nächsten Morgen fand der Knappe seinen Herrn an der Mauer der alten Ruine.
Er stand aufrecht, das Schwert gesenkt, das Antlitz still – wie aus Stein gehauen.

Die Jungfrau war verschwunden.

Und doch, so erzählen die Alten, wenn an kalten, nebligen Abenden der Wind um die Ruine von Windeck streicht, riecht man manchmal den Duft von wilden Rosen.
Dann weiß man: Der Ritter und das Burgfräulein sind noch dort –
er, erstarrt in seiner Sehnsucht,
sie, gefangen im Fluch ihrer Einsamkeit."

Der Alte sah in die Flammen.
Lange sagte niemand etwas. Nur das Feuer sprach weiter, mit seinem leisen Knistern und Wispern.

Dann hob er den Kopf, lächelte schwach und murmelte:
"So, Kinder – merkt euch das:
Wer zu tief in das Reich der Geister blickt, vergisst leicht, wo er selbst beginnt.

Habt Mut, ja – aber auch Maß und Weisheit."

Mondlicht glitt über die Gesichter der Kinder, und in der Stille des Waldes schien die Geschichte noch lange nachzuhallen.

© 15.10.2025 Gerd Groß

Rezension: "Der Ritter und die geisterhafte Jungfrau"

Gerd Großs Erzählung "Der Ritter und die geisterhafte Jungfrau" entfaltet sich wie ein klassisches Lagerfeuer-Märchen, das den Leser in eine Welt zwischen Realität und Geisterreich entführt. Die Geschichte lebt von der dichten Atmosphäre des Waldes und der alten Ruine Windeck, deren geheimnisvolle Stimmung durch den sorgfältigen Einsatz von Licht, Schatten und Geräuschen meisterhaft vermittelt wird.

Die Charaktere, allen voran Ritter Kuno von Hohenfels, sind klar gezeichnet: tapfer, neugierig und zugleich verletzlich. Die geisterhafte Jungfrau wirkt zugleich geheimnisvoll und tragisch, ihre Existenz an die Ruine gebunden, vermittelt Spannung, Romantik und einen Hauch von Melancholie. Besonders eindrucksvoll ist die Szene, in der Kuno den Kelch trinkt und Stück für Stück seiner Welt vergisst – sie zeigt Großs Fähigkeit, innere Transformation und emotionale Tiefe bildhaft darzustellen.

Die narrative Stimme des alten Mannes am Lagerfeuer verstärkt das Märchenhafte und zieht den Leser in den Bann: Das Knistern des Feuers, der Duft des Waldes, die leisen Funken – alles verschmilzt zu einem Erlebnis, das den historischen und übernatürlichen Rahmen glaubwürdig verbindet. Die Geschichte verbindet klassische Märchenstrukturen mit poetischem Erzählen, ohne dabei in Kitsch zu verfallen.

Thematisch behandelt das Werk Mut, Neugier, Liebe, Sehnsucht und die Grenzen menschlicher Handlung im Angesicht übernatürlicher Mächte. Die Moral am Ende – die Warnung vor zu tiefer Neugier in das Reich der Geister – wirkt zeitlos und rundet die Geschichte ab.

Insgesamt überzeugt "Der Ritter und die geisterhafte Jungfrau" durch seine atmosphärische Dichte, die klaren Charaktere und die feinsinnige Balance zwischen Spannung, Romantik und mystischer Symbolik. Ein klassisches Märchen, das moderne Leser ebenso fesselt wie Kinder am Lagerfeuer.

Bewertung: ★★★★☆ (4/5) – Ein poetisches, stimmungsvolles Märchen voller Geheimnis, Tragik und Romantik.

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