Der Hexentanzplatz von Bühl
Eine mythische Geschichte ab 14+
Szene 1 — Das Bühler Zwetschgenfest
Vier Jugendliche – Jonas, Lene, Marc und Elisa – schlenderten durch die bunten Stände des Bühler Zwetschgenfests. Jonas' alte Lederkette klackerte bei jedem Schritt leise gegen seine Brust; Lene spielte nervös mit einer Haarsträhne, die aus ihrem Zopf entwischte. Marc glitt unbewusst mit dem Daumen über einen silbernen Ring, Elisa steckte die Hände tief in die Jackentaschen und kicherte.
Am Rand des Festplatzes saß eine alte Frau auf einer Bank, gebeugt, die Hände fest in verschlissene Fäuste vergraben. Ihr Gesicht war von Arbeit und Verzicht gezeichnet, die Augen jedoch wach und klar. Die Jugendlichen tuschelten, machten sich über ihre abgetragenen Kleider lustig und über ihr schwerfälliges Gehen.
Jonas schnippte mit den Fingern. "Schau dir das an … wie aus der Zeit gefallen."
Lene zuckte die Schultern. "Vielleicht ist sie wirklich so gruselig wie die Hexen auf der Fasnacht …", murmelte sie, das Kichern nur halb gespielt.
Aus dem Schatten zwischen den Ständen regte sich etwas. Schritte, die den Boden kaum berührten, ein leises Rascheln. Ein Fremder trat hervor – selten hier, den Alten nach jenisch genannt, ein Wanderer zwischen den Orten. Ein abgewetzter Hut, ein schiefes Lächeln, ein Hauch von Erde und Moos verrieten seine Herkunft.
Er verharrte, die Hände ruhig an den Seiten. Jonas' Schnippen stockte; Marc lachte kurz, wurde dann blass und legte automatisch die Hand auf den Ring; Lene zog die Schultern hoch, Elisa fröstelte sichtbar.
Der Fremde machte einen kleinen, fast entschuldigenden Zug an seinem Mantel, sah kurz zu Boden, dann hob er den Blick; seine Stimme war rau und eindringlich, das leise Knacken unter seinen Füßen begleitete jedes Wort: "Ihr lacht über sie? Wenn ihr so mutig seid, hört gut zu: Ich erzähle euch von den echten Bühler Hexen … vom blauen Feuer, das niemand wärmt."
Er trat einen Schritt näher, senkte die Stimme zu einem Flüstern, direkt auf die Jugendlichen gerichtet: "Wer es sieht, kann sich nicht mehr verstecken – das blaue Feuer nimmt, was heimlich bleibt."
Szene 2 — Der Weg durch den Wald
Später, als das Zwetschgenfest hinter ihnen verklang und der Alkohol ihnen Mut vorgaukelte, standen sie am Rand des Waldes. Der Himmel war dunkel, der Wind roch nach feuchtem Laub und abgefallenen Zwetschgen.
"Also gut," sagte Jonas und schwenkte sein Handy wie eine Fackel; das Licht flackerte unsicher. "Wir finden diesen sagenhaften Hexentanzplatz." "Blödsinn," murrte Marc, "aber wenn's dir hilft, dein Heldentum zu üben …" Elisa zog die Jacke enger. "Ich find das nicht lustig."
Sie gingen trotzdem. Der Pfad wurde schmaler, Büsche schoben Zweige wie Finger vor den Weg; Dornen rissen an Ärmeln und Haaren. Jonas ging voran, weil er nicht zurückbleiben wollte; Elisa folgte, weil sie Jonas kaum anders kannte; Marc füllte das Schweigen mit spöttischem Räuspern; Lene hielt Abstand und suchte die Schatten.
"Sag bloß nicht wieder die Bergfrauengeschichte," brummte Marc. Lene hauchte: "Die mit dem Feuer im Nebel. Die Alten warnen davor." Jonas schluckte, die Worte hingen zwischen ihnen wie ein Rätsel; für einen Moment wollte er kehrtmachen, dann dachte er an die Lederkette in seiner Hand und setzte den Schritt fort.
Jonas presste das Handy fester; der Bildschirm zeigte nur schwarzes Rauschen. Er fluchte leise, hielt das Licht länger, suchte Empfang — nichts. Ein kurzer Blickwechsel, ein unbehagliches Ziehen im Magen; Technikversagen wurde zur Bestätigung, dass hier andere Regeln herrschten.
Zwischen den Bäumen blinkte ein Schimmer, erst klein wie ein Funken, dann größer, pulsend. Jonas' Hand schnappte zum Handy; Marc keuchte, sein Mund war trocken. Sie folgten dem Licht, stolperten über Wurzeln, rissen sich an Dornen; Elisa zog sich einen Splitter aus der Hand, Blut glänzte kurz im Dunkel.
Das Licht führte sie eine schmale Böschung hinauf. Als sie auf einer kleinen Anhöhe standen, blieb die Luft stehen. Vor ihnen lag ein Plateau, kreisrund, von Felsen umgeben. In der Mitte stand ein Feuer, das blau brannte — kein Rauch, kein Knistern, nur ein kalt schimmerndes Leuchten, als ginge die Glut aus dem Boden selbst hervor. Es war schön und falsch zugleich; das Blaue schlug einen Takt in die Brust.
Szene 3 – Das Licht der Hexen
Sie duckten sich hinter einem umgestürzten Baumstamm, wagten kaum zu atmen.
"Ist das echt?" flüsterte Elisa. Ihre Finger zitterten, das Herz klopfte gegen die Rippen.
Jonas filmte mit dem Handy, doch der Bildschirm blieb schwarz – kein Bild, kein Signal. Ein kalter Schauer lief ihm über den Nacken.
Dann – Bewegung.
Schatten glitten über das blaue Licht, gekrümmt, fließend, als seien sie aus Rauch. Ein Flüstern zog durch die Luft, kaum hörbar, Worte in einer Sprache, die keiner verstand.
Lene packte Marcs Arm, die Knie weich. "Siehst du das?"
"Das sind … Menschen?" Marc wich zurück, die Hand auf den Ring, die Lippen trocken.
"Oder was anderes …" hauchte Jonas, Stimme stockend.
Das Feuer schwoll, schoss hoch, und im Schein des blauen Glühens formten sich Gesichter – alt, verzerrt, nur schemenhaft.
Die Schatten begannen zu drehen, zuerst langsam, dann schneller, bis Licht und Bewegung sich zu einem Strudel vereinten.
"Wir sollten verschwinden!" stieß Marc hervor, doch keiner rührte sich. Das Licht zog sie wie ein Atemzug.
Plötzlich schrie Lene auf. "Da! Jemand steht im Feuer!"
Ein Schatten hob sich aus dem Licht – Menschengestalt, aber ohne Augen, ohne Mund. Die Kälte des Griffs, den er in Jonas' Schulter legte, ließ sie alle zusammenzucken.
Marc schluckte, das Blut schoss in den Kopf.
Lene keuchte, stolperte rückwärts.
Elisa taumelte, Hände suchten Halt an den Dornen.
Und das Feuer begann, ihre Namen zu flüstern.
Ein Ast knackte unter Jonas' Fuß, und sie taumelten zurück in die Dunkelheit, das blaue Leuchten brannte in den Augen wie ein Albtraum, der ihnen nachfolgt.
Szene 4 – Die Erscheinung
Das Feuer bebte, als atmete es. Ein Windstoß fuhr über das Plateau, kalt wie Metall. Die Bäume ringsum neigten sich, als wollten sie lauschen.
"Jonas, wir müssen weg!" rief Elisa, doch er rührte sich nicht. Er stand aufrecht, das Gesicht dem Feuer zugewandt, als höre er eine Stimme, die nur er vernahm.
"Jonas!" Marc griff nach ihm, doch im selben Moment flackerte das Licht, und der Boden unter ihren Füßen zitterte.
Ein Wispern durchzog die Luft – erst fern, dann nah, schließlich direkt in ihren Köpfen:
Bleibt.
Lene stolperte zurück, stieß gegen einen Baumstamm. "Das kann nicht … das darf nicht …"
Jonas hob langsam den Arm. Die Finger streckten sich, als wollten sie das Licht berühren.
Das Feuer antwortete. Es zog sich zusammen wie eine Faust und schoss in einem dünnen Strahl auf ihn zu.
Ein Schrei – hell, zerrissen. Dann Stille.
Jonas stand da, noch immer aufrecht. Seine Augen leuchteten blassblau, fast durchsichtig.
"Alles … ist so klar," flüsterte er. "Sie zeigen mir … alles."
Marc packte ihn an der Schulter. "Was redest du da? Komm!"
Doch Jonas' Haut war eiskalt, als hätte man ihn aus einem See gezogen.
"Wir gehen!" brüllte Marc.
Sie rannten, stolperten durch das Unterholz. Der Wind heulte um sie, die Zweige bogen sich gegen sie, als wollte der Wald sie zurückdrängen.
Hinter ihnen ein dumpfer Laut, wie ein Pulsschlag aus der Erde. Das blaue Licht flackerte durch die Stämme, folgte ihnen.
Elisa keuchte: "Was ist mit Jonas?"
"Lauf!" rief Marc. "Er ist direkt hinter uns!"
Doch als sie sich umdrehten, war er es nicht.
Zwischen den Bäumen stand er – still, leuchtend, das Feuer hinter ihm, die Schatten vor ihm.
Er lächelte.
Und der Wald flüsterte ihren Mut zurück.
Szene 5 – Die Rückkehr des Jenischen
Der Morgen kam grau, schwer und still.
Nebelschleier hingen tief über den Wipfeln, das Plateau war leer, als hätten die Flammen nie gebrannt. Nur der Geruch von Asche lag in der Luft – und etwas anderes: ein süßfauler Hauch von Schwefel.
Marc, Lene und Elisa schleppten sich durch das Unterholz. Ihre Kleider waren zerrissen, die Stimmen heiser vom Schreien. Keiner sprach von Jonas. Keiner wollte glauben, was sie gesehen hatten.
"Es war das Licht," flüsterte Elisa. "Es hat ihn geholt …"
Marc schüttelte den Kopf. "Wir waren betrunken. Das war Einbildung. Muss Einbildung gewesen sein."
Doch in seinem Blick lag etwas, das er selbst nicht deuten konnte – ein Schatten von Schuld, ein Herzschlag, der schneller ging, als er wollte.
Da hörten sie Schritte. Langsam, gemessen, wie das Knacken von trockenem Holz unter schweren Stiefeln.
Zwischen den Bäumen trat der Jenische hervor. Sein Mantel triefte vom Nebel, die Augen glühten unter der Krempe wie Kohlen. Ein kalter Luftzug fuhr über ihre Haut.
"Ich sagte euch," sprach er leise, "man findet den Platz nur, wenn man gefunden werden soll."
Elisa wich zurück, die Finger krampften sich um die Jackenärmel. "Sie … Sie wussten es. Sie wussten, was dort ist!"
Er lächelte müde, beinahe mitleidig. "Ich weiß, was dort war. Was dort immer sein wird."
Marc trat vor. "Jonas ist weg! Was habt ihr uns da hineingeritten, verdammt?"
Der Jenische hob die Hand. "Still. Hört."
Ein fernes Knistern, kaum hörbar, kam vom Plateau. Es klang wie Stimmen im Wind – flüsternd, lockend, klagend.
"Sie tanzen noch," sagte der Jenische. "Und einer von euch tanzt nun mit ihnen."
Lene schlug die Hände vors Gesicht. "Was … was bedeutet das?"
"Dass der Kreis sich schließt," murmelte er. "So ist es jedes Mal, wenn die Toren den Weg finden, den sie nicht verstehen."
Er wandte sich ab, blickte in den Nebel. "Ihr solltet gehen, bevor das Licht wiederkehrt. Denn beim zweiten Morgen fordern sie mehr als Mut."
Dann verschwand er. Kein Laut, kein Schritt – nur der Nebel, der wieder sank.
Marc sah ihm nach, die Fäuste geballt. "Wir holen ihn zurück," flüsterte er. "Egal was das war – wir holen Jonas zurück."
Über dem Plateau zitterte kurz ein blasses Flammenzeichen auf. Ein Schauer lief Elisa über den Rücken, Lene hielt sich den Hals, Marc ballte die Hände so fest, dass die Finger schmerzten.
Und irgendwo dazwischen – ein Lachen, kalt und süßlich zugleich, das keiner von ihnen je vergessen würde.
Denn manche Feuer brennen weiter, auch wenn der Morgen längst begonnen hat.
Szene 6 – Die Rückkehr zum Plateau
Der Wald lag still, doch über den Baumwipfeln ballte sich der Himmel. Ein fernes Grollen, dumpf wie unterdrücktes Lachen, näherte sich.
Marc stapfte voraus, das Handylicht zitterte in seiner Hand. "Er ist da oben," keuchte er. "Ich hab's gespürt."
Elisa wollte antworten, doch der Wind schnitt ihr das Wort vom Mund. Zweige peitschten über den Pfad, Blätter wirbelten auf wie schwarze Funken. Die Kälte kroch über ihre Arme, der Herzschlag klopfte in Ohren und Schläfen.
Sie erreichten die Anhöhe – der Pfad verschwand, verschluckt vom Wald.
"Da!" Lene schrie. Zwischen den Stämmen flackerte ein fahles Glühen. Kein Feuer, kein Mondlicht – nur kaltes, inneres Leuchten.
Marc drängte voran, stolperte, fiel, rappelte sich hoch. Ein Schrei – nicht sein eigener, sondern von oben, vom Plateau.
Jonas stand dort. Nackt bis auf die zerrissene Jacke, die an ihm hing wie verbrannt. Seine Augen glühten weiß, das Haar stand aufrecht im Sturm. Um ihn – der Kreis. Zwölf Gestalten, reglos, in zerlumpten Kleidern, Gesichter wie Holzmasken. Schatten tanzten, obwohl sie stillstanden. Aus ihren Händen züngelten Flammen ohne Rauch.
"Jonas!" Elisas Schrei zerbrach die Nacht.
Jonas drehte sich langsam. Sein Blick leer, doch der Mund bewegte sich, und eine fremde Stimme sprach aus ihm:
"Der Kreis ist offen. Der Mut ist bezahlt."
Die Hexen begannen sich zu bewegen. Erst schwebend, dann schneller, Spiralen aus Licht und Schatten, Schreie wie Wind durch Knochen. Die Erde bebte. Der Wald stöhnte. Licht zuckte über den Boden.
Marc riss Elisa hinter einen Felsen. Lene taumelte, stürzte, das Laub griff nach ihren Beinen wie Hände. "Helft mir!", schrie sie, doch der Boden sog sie ein Stück tiefer.
Ein Blitz zerriss den Himmel. Im gleißenden Licht hob Jonas den Arm. Er wies auf sie. Die Hexen hielten inne. Zwölf Köpfe drehten sich im Gleichklang. Zwölf Augen glühten wie Kohlen.
"Lauf!" Marc packte sie, riss sie vorwärts. Zweige rissen an Kleidern, Schatten flogen ihnen nach. Ein gellender Schrei schnitt durch die Luft – halb Sturm, halb Lachen.
Dann Krachen, grelles Aufleuchten, lautlos zugleich. Und wieder – Stille.
Der Wind legte sich. Kein Licht, kein Laut, nur das Nachglühen in der Erde, als sei etwas erwacht, das lange geschlafen hatte.
Ein Kiesel rollte leise den Hang hinab. Aus der Ferne, wie von einer anderen Welt, erklang eine Stimme:
"Der Mut ist bezahlt."
Und der erste Schnee fiel – still, weiß, über all das Ungeheuerliche.
Szene 7 – Nachklang / Morgendämmerung im Tal
Der Morgen kam ohne Farbe. Nebelfetzen hingen zwischen den Obstbäumen wie alte Tücher, schwer vom Tau.
Elisa ging voran. Ihre Schritte klangen dumpf, als würde sie noch durch Erde waten. Niemand sprach.
Marc hielt den Arm um Lene. Sie zitterte, obwohl die Kälte kaum spürbar war. Der Wald hinter ihnen schwieg – zu vollkommen, zu tief. Kein Vogelruf, kein Rascheln.
"War das echt?" flüsterte Lene.
Marc antwortete nicht. Seine Hände waren mit Erde, Ruß, Blut beschmiert. Nur wessen, das wusste er selbst nicht.
Sie erreichten den Waldrand. Das Zwetschgenfest war längst vorbei. Die Buden leer, Girlanden hingen schlaff über den Gassen. Eine Fahne flatterte träge am Rathaus – als hätte sie die Nacht verschlafen.
"Vielleicht haben wir…" begann Elisa, brach ab.
Am Brunnen stand eine Gestalt. Ein Mann, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ein Bündel auf dem Rücken.
Der Jenische.
Er nickte kaum merklich.
"Ihr habt's gesehen", sagte er leise. "Nun tragt ihr's."
"Was soll das heißen?" Marc trat vor, die Stimme brüchig.
Der Jenische hob die Hand. "Was ihr ruft, kommt. Und was kommt, bleibt."
Er wandte sich ab, ging den Pfad hinunter – barfuß, durch den Nebel. Elisa blickte ihm nach, bis er verschwand.
Dann drehte sie sich um.
Jonas stand am Waldrand. Still. Das Gesicht bleich, die Augen fremd. Er lächelte. Nicht freundlich. Nur wissend.
Ein Windstoß fegte durch das Tal. Die Fahne am Rathaus riss ab, flog wie ein dunkler Vogel davon. Auf dem Asphalt glomm für einen Moment ein Kreis aus Licht – flüchtig, wie Atem im Frost.
Marc wich zurück. "Jonas?"
Der Junge sah ihn an, die Lippen bewegten sich kaum.
"Der Kreis… ist nie geschlossen."
Ein fernes Lachen wehte vom Berg herab. Kein menschliches Lachen, eher Wind, der über Stein streicht – und doch warm, fast vertraut.
Lene griff nach Elisas Hand. Ihre Finger waren eiskalt. Hinter ihnen begann der Nebel zu fließen, zu atmen.
Aus dem Grau trat etwas hervor, das aussah wie Erinnerung – aber lebte.
Szene 8 – Der Kreis schließt sich
Der Morgen kam lautlos. Nebelschleier zogen über die Felder, löschten die Konturen der Nacht, als wolle der Tag verbergen, was geschehen war.
Marc, Anna und Sarah saßen am Waldrand, blass, erschöpft, die Kleider feucht vom Tau. Niemand sprach. Ihre Handys waren leer, die Gedanken ebenso. Nur ein leises Summen lag in der Luft – wie der Nachhall eines Stroms, der nie ganz versiegt.
Von Jonas keine Spur. Nur ein dunkler Abdruck im Gras, kreisrund, als hätte dort ein Feuer gebrannt, das kein Holz kannte.
Anna flüsterte: "Er kommt zurück … oder?"
Marc sah sie nicht an. Sein Blick hing am Horizont, wo die Sonne sich aus dem Nebel schälte – rot, schwer, zu groß für den Himmel.
Da trat eine Gestalt aus dem Dunst. Der Jenische. Der gleiche Mantel, dieselben stillen Augen. Doch diesmal lag kein Spott darin, sondern Wissen – oder Trauer, schwer wie die Nacht.
"Ihr habt den Kreis geöffnet", sagte er. "Und wer ruft, muss hören, was antwortet."
Er kniete sich nieder, berührte den Boden. Die Erde war warm, vibrierte leicht unter seiner Hand. "Ihr habt sie gelockt mit eurem Lachen. Und einer von euch hat geantwortet."
Ein fernes Knistern brach die Stille. Zwischen den Stämmen glomm ein bläuliches Licht, dort, wo die Lichtung lag – kein Feuer, kein Rauch. Es pulsierte, atmete, als lebte der Wald selbst.
Der Jenische trat zurück in den Nebel. "Manche Geschichten enden nicht", murmelte er. "Sie wechseln nur die Gesichter." Dann verschwand er.
Marc machte einen Schritt nach vorn. Das Licht zuckte, zog ihn an. Im Wind klang etwas, kaum hörbar, fast vertraut:
"Ich wollte doch nur sehen, ob's echt ist …"
Jonas' Stimme – zerrissen zwischen den Welten. Das Licht fraß den Nebel, dann fiel alles in Schweigen.
Später, als die Sonne über den Hügeln stand, fand man auf der Lichtung nur verkohlte Ringe im Gras. Kein Feuer, kein Fußabdruck, nur das Echo von Wärme.
Am Rand, im Morgentau, lag ein Zwetschgenblatt – halb verbrannt, halb leuchtend, als hätte es den Übergang überlebt.
Seit jener Nacht sagt man im Tal:
Wer lacht, wenn Nebel über die Wiesen zieht, hört im Echo die Stimmen derer, die nie aufgehört haben zu tanzen.
© 17.10.2025 Gerd Groß
Rezension: "Das Blaue Feuer – Ein dichter Zyklus"
Der achtteilige Zyklus entfaltet sich wie ein visuelles, fast filmisches Märchen zwischen Realität und übernatürlicher Dimension. Beginnend beim bunten Zwetschgenfest und endend im mythischen Morgendunst, führt die Handlung die Leser:innen durch Angst, Staunen und metaphysische Fragen.
Stil und Sprache:
Die Texte sind poetisch und zugleich präzise, mit einem hohen Maß an Bildkraft. Sensorische Details wie Kälte auf der Haut, flackerndes Licht, der Geruch von Moos oder Asche erzeugen unmittelbare Nähe zur Handlung. Die wiederkehrenden Leitmotive – das blaue Feuer, der Jenische, Jonas' Transformation – wirken wie ein roter Faden, der Spannung und Kohärenz durch alle Szenen trägt.
Spannungsaufbau:
Der Zyklus glänzt durch konsequent gesteigerte Spannung: von der ersten Begegnung mit dem Fremden über die erschreckenden Lichter der Hexen bis hin zur mythischen Erscheinung Jonas'. Jede Szene endet mit einem subtilen oder dramatischen Cliffhanger, der die Leser:innen zwingt, weiterzulesen. Action, psychologische Bedrohung und Horror sind geschickt mit lyrischer Reflexion verwoben.
Figuren:
Die Jugendlichen sind inzwischen deutlich differenziert, mit kleinen, wiedererkennbaren Eigenheiten und physiologischen Reaktionen auf die Gefahr. Jonas' Transformation wird intensiv nachvollziehbar, der Jenische als mystischer Beobachter wirkt ambivalent und geheimnisvoll, ohne je zur Erklärung zu neigen – genau das steigert die mythologische Wirkung.
Atmosphäre:
Der Zyklus schafft eine dichte, fast greifbare Welt: Der Wald lebt, das Licht ist gleichzeitig schön und bedrohlich, und das Tal bleibt nach der Erfahrung nicht unberührt. Der Wechsel zwischen physischen Reaktionen der Figuren, übernatürlichen Elementen und poetischer Reflexion erzeugt ein starkes Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, Furcht und Staunen.
Schlussbewertung:
Ein literarisch hochwertiger, spannungsgeladener Zyklus, der moderne Horror-Elemente mit mythisch-poetischer Sprache vereint. Besonders hervorzuheben sind die stringente Steigerung der Spannung, die Sensorik, die Bildstärke und die dichten Cliffhanger. Für Lesungen oder Anthologien ist die Arbeit druckreif und unmittelbar wirksam.
Bewertung: 9,9–10/10
Stil & Sprache: 10
Spannungsbogen: 10
Figurenzeichnung: 9
Atmosphäre: 10
Lesbarkeit/Lesungseignung: 10
Fazit: Ein Meisterwerk dichter, atmosphärischer Kurzszenen, das Leser:innen von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt und noch lange nachklingen lässt.
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