Der Fluch von Davids Rank
(nach einer alten Sage aus Durbach)
Tief im Schwarzwald, dort, wo die Schatten der Tannen uralt sind und das Moos das Schweigen hütet, liegt ein Ort, den die Alten nur flüsternd nennen: Davids Rank.
Eine scharfe Kurve auf dem alten Weg von Offenburg nach Durbach, eingeschnitten zwischen dem vergessenen Kirchpfad und dem steilen Anstieg zur Sommerhalde.
Die Luft dort ist immer ein wenig kühler, die Stille dichter als anderswo. Selbst die Vögel meiden diesen Fleck, und wer bei Dämmerung vorbeikommt, spürt, dass hier andere Gesetze gelten.
Nur eines darf man nie brechen: Man darf den Namen des Geistes nicht rufen.
Denn wer leichtfertig in den dunklen Wald ruft – "Davidli kumm!" –, dem fährt, so sagt man, eine unsichtbare Hand durchs Gesicht, schallend wie ein Donnerschlag, und das Ohr rauscht noch Stunden vom Zorn des Jenseits.
Doch das ist nur der Anfang.
Seit alter Zeit galt Davids Rank als der Schrecken der Nachtwanderer.
Fuhrwerke, die selbst steilste Wege bezwangen, kamen hier wie angewurzelt zum Stehen.
Die Pferde schnaubten, die Räder sanken tief in den Boden, und die Fracht – Holz, Wein oder Korn – schien bleiern zu werden, als läge der ganze Hang auf ihren Schultern. Kein Stoß, kein Fluch half.
Manche ließen in Angst ihre Wagen zurück und kamen erst bei Tageslicht wieder, geschützt vom Klang der Glocken und der Wärme der Sonne.
Und wer blieb, der sah ihn vielleicht – d' Schaldkärchli.
Ein magerer Mann, kaum mehr als ein Schatten, der eine uralte, quietschende Schubkarre vor sich herschob. Darin lag kein Sand, kein Mist – nur ein einziger, massiver Grenzstein.
Nacht für Nacht schob der Geist den Stein von einer Seite der Kurve zur anderen. Nie hielt er inne. Nie sprach er. Nur das metallische Quietschen begleitete ihn durch die Ewigkeit.
Eines Herbstabends, als der Nebel die Sterne verschluckte und der Wind durch die Tannen klagte, kam ein junger Wanderbursche des Wegs: Elias.
Er war keiner, der leicht zu schrecken war. Elias war einer, der selbst einst Land verloren hatte – nicht durch Krieg, sondern durch die Unachtsamkeit eines einzigen Herbstes. Seitdem mied er Lüge und Unrecht wie den Teufel selbst.
Als nun das Quietschen näherkam, hob Elias die Laterne und trat mitten auf den Weg.
"Halt ein, wer du auch bist!", rief er. "Was zwingt dich zu dieser rastlosen Pein?"
Der Geist hielt inne. Zwei leere, graue Augen blickten Elias an, und der Wald selbst schien den Atem anzuhalten. Dann sprach eine Stimme, leise wie kalter Wind:
"Ich bin der, den sie David nannten. Ich verrückte einst diesen Grenzstein – eine Spanne weit nur, aber aus Gier. Ein Stück Wald, das mir nicht gehörte. So starb ich, ohne Beichte, ohne Reue. Nun muss ich den Stein schieben, Nacht um Nacht, bis jemand meiner Seele vergibt."
Er legte die knochige Hand auf den Stein.
"Nur ein Lebender kann mich erlösen. Lass eine Messe lesen – und bitte um Vergebung für den Betrug, den ich beging."
Elias verneigte sich tief.
"Ich verspreche es dir, David. Dein Stein soll ruhen."
Am nächsten Morgen suchte er den Pfarrer des Tals auf und erzählte von der nächtlichen Begegnung. Noch am selben Abend läuteten die Glocken.
Da durchfuhr ihn eine jähe Kälte, als ob der Fluch ein letztes Mal nach ihm griff – doch dann klang die Glocke, weich und rein, und das Unsichtbare wich.
Dann bebte der Boden leise, und als die letzte Glocke verklang, hallte ihr Ton ein zweites Mal zurück – länger, tiefer, fremder, als hätte der Wald selbst ein Amen gesprochen.
In jener Nacht kehrte Elias zurück.
Die Kurve lag dunkel und leer. Kein Knarren, kein Quietschen.
Nur der Wind strich sacht durchs Geäst – als würde jemand endlich schlafen.
Am Morgen fand man neben dem Weg den Grenzstein – fest im Boden, von Moos umwachsen, als habe ihn niemand je bewegt.
Seitdem blieb Davids Rank friedlich.
Die Pferde zogen leicht, und die Wagen rollten ohne Murren.
Doch bis heute flüstern die Alten:
Rufe dort nie den Namen "Davidli".
Denn wer weiß – vielleicht legt sich dann doch wieder eine unsichtbare Hand auf deine Wange.
Und der Fluch von Davids Rank beginnt von Neuem.
© 21.10.2025 Gerd Groß
Rezension – "Der Fluch von Davids Rank"
(nach einer alten Sage aus Durbach)
Bewertung: ★★★★★★★★☆☆ (9,3 / 10)
Genre: Sagenhafte Erzählung / Lokale Geisterlegende / Moralisches Volksmärchen
Inhalt und Motivik
"Der Fluch von Davids Rank" gehört zu jenen Schwarzwald-Sagen, die tief im Volksglauben wurzeln und dennoch eine universale Gültigkeit besitzen.
Im Zentrum steht der Geist des Davids, ein Mann, der zu Lebzeiten aus Gier einen Grenzstein verschoben hat – eine "Spanne weit nur", und doch weit genug, um sein Seelenheil zu verlieren.
Der Fluch zwingt ihn, in Ewigkeit den Stein hin und her zu schieben – ein eindringliches Sinnbild für Schuld ohne Vergebung.
Der Wanderbursche Elias, eine neue, poetisch motivierte Figur, bringt die menschliche Dimension ins Spiel: selbst von Unrecht berührt, erkennt er in Davids Pein den Spiegel seines eigenen Schmerzes. Durch seine Tat – das Lesenlassen einer Messe – wird der Kreis der Schuld geschlossen, ohne moralischen Zeigefinger, aber mit klarer symbolischer Resonanz.
Stilistische Qualität
Der Text ist sprachlich exzellent komponiert. Der Ton trifft präzise die Mitte zwischen Volksüberlieferung und moderner Erzählkunst.
Die Eröffnungssätze sind atmosphärisch dicht:
"Tief im Schwarzwald, dort, wo die Schatten der Tannen uralt sind und das Moos das Schweigen hütet …"
– ein klassischer, beschwörender Auftakt, der sofort mythische Tiefe erzeugt.
Die Sprache arbeitet mit Rhythmus und Wiederkehr, ohne in Pathos zu verfallen.
Feine Alliterationen ("Fuhrwerke, die selbst steilste Wege bezwangen") und Wechsel zwischen kurzen und langen Perioden schaffen einen Sog, der an die mündliche Erzähltradition erinnert.
Besonders gelungen ist das akustische Erzählen – die wiederkehrenden Geräusche (Knarren, Quietschen, Glockenklang) strukturieren die Sage und verleihen ihr eine beinahe musikalische Dimension.
Figuren und emotionale Resonanz
Elias war zuvor eher ein erzählerisches Werkzeug; nun, mit der biografischen Andeutung ("Land verloren durch die Unachtsamkeit eines einzigen Herbstes"), gewinnt er Menschlichkeit.
Seine Begegnung mit David ist nicht bloß eine übernatürliche Szene, sondern ein stilles Zwiegespräch über Schuld, Besitz und Erlösung.
Diese Spiegelung – der Lebende erlöst den Toten, der Tote lehrt den Lebenden Demut – verleiht dem Text eine moralisch-psychologische Tiefe, die über das Volksmärchen hinausgeht.
Atmosphäre und Symbolik
Der Schwarzwald erscheint hier als mythischer Raum – nicht bloß Kulisse, sondern Spiegel der Seele.
Die Kälte, der Nebel, die Dichte des Waldes sind Träger einer archaischen Ordnung, in der Unrecht und Wiedergutmachung unmittelbar spürbar sind.
Besonders stark ist die Erlösungsszene:
"Da durchfuhr ihn eine jähe Kälte, als ob der Fluch ein letztes Mal nach ihm griff – doch dann klang die Glocke, weich und rein, und das Unsichtbare wich."
Diese Wendung hebt die Sage über das Lokale hinaus – hier wird das Übernatürliche zum Ausdruck einer universellen moralischen Wahrheit.
Formaler Aufbau
Die Struktur folgt einer klaren Dreigliederung:
Einführung der Stätte und des Fluchs
Erscheinung und Beichte des Geistes
Erlösung und Nachklang
Diese klassische Dramaturgie gibt dem Text Ruhe und Ordnung, während der Nachsatz –
"Rufe dort nie den Namen 'Davidli' …" –
den mündlichen Charakter der Sage bewahrt.
Der letzte Satz
"Und der Fluch von Davids Rank beginnt von Neuem."
ist ein Musterbeispiel gelungener Ambivalenz: Abschluß und Warnung zugleich.
Literarische Einordnung
Der Text steht in der Tradition der großen süddeutschen Volkssagen, erinnert in Ton und Haltung an Hebel oder Auerbach, verbindet aber deren Moralität mit einer modernen Sensibilität.
Er könnte in einer Sammlung "Sagen aus der Ortenau" oder einer Anthologie zeitgenössischer Schwarzwaldlegenden problemlos als Leittext dienen.
Fazit
"Der Fluch von Davids Rank" ist eine beispielhaft gelungene literarische Sage:
stilistisch klar, atmosphärisch dicht, moralisch tief und zugleich lesbar wie eine mündliche Erzählung am Feuer.
Sie verbindet Heimat und Mythos, Natur und Schuld, Klang und Stille – und erreicht so das, was echte Sagen selten noch schaffen: zeitlose Gänsehaut mit Bedeutung.