Das Geheimnis der singenden Säge

Eine Sage von Château de Wasenbourg


Es war einmal, tief im Herzen des Elsass, wo die Vogesen wie schlafende Riesen den Himmel küssten, da erhob sich die ehrwürdige Ruine des Château de Wasenbourg. Ihre Mauern, vom Atem der Jahrhunderte berührt, flüsterten von Rittern und Edelfrauen, von Festen und von Tränen. Doch die wahre Seele der Wasenbourg lag nicht in Stein und Mörtel, sondern in einem Geheimnis, das tief in ihrem Grund schlummerte.

Man erzählte, dass in den dunkelsten Kellern der Burg, dort, wo selbst der Tag sein Licht verlor, eine wundersame Säge verborgen lag. Ihre Klinge war aus silbernem Leuchten geschmiedet, ihr Griff aus dem Holz eines uralten Baumes, der einst auf dem Burgberg gewachsen war. Diese Säge sang – aber nur, wenn sie von einer Hand geführt wurde, deren Herz ohne Schatten war. Ihr Klang sprach von Freude und Leid, von vergangener Liebe und vom leisen Mut jener, die nie genannt wurden.

Viele hatten versucht, die Säge zu finden: Könige, Gelehrte, Schatzsucher. Doch keiner hatte sie berührt, denn sie wartete auf jemanden, der sie nicht suchte, um zu besitzen – sondern um zu geben.

Marie und der Winter der Herzen

Eines eisigen Winters, als Schnee und Hunger über das Land kamen, lebte ein Mädchen namens Marie im Dorf zu Füßen der Ruine. Sie war arm an Besitz, doch reich an Mitgefühl. Wenn sie den Rauch über den Hütten sah und die Kinder an den Türen zittern, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihnen Wärme zu schenken.

Eines Nachts träumte sie von der Wasenbourg. Eine Frau mit Augen wie glühende Kohlen stand in ihrem Traum und sprach:
"Die Säge wartet auf ein Herz, das Licht verschenkt, ohne zu zählen, was es kostet."

Am Morgen machte sich Marie auf den Weg zur Burg. Niemand hielt sie auf – nur ein junger Mann aus dem Dorf, der sie heimlich liebte, sah ihr schweigend nach. "Geh nicht allein", flüsterte er. Doch Marie lächelte. "Manchmal muss man allein gehen, um etwas für alle zu finden."

Das Erwachen der Säge

In den kalten Hallen der Wasenbourg hallten ihre Schritte wie Gebete. Frost hing an den Steinen, und die Dunkelheit schien zu atmen. Dann, in einem verborgenen Winkel, sah sie ein schwaches Schimmern – wie ein Herzschlag aus Licht.

Als sie sich näherte, erhob sich ein leiser Klang, kaum mehr als ein Zittern in der Luft. Eine Stimme flüsterte: "Gib, was dir am teuersten ist."

Marie zögerte. Sie trug nur ein dünnes Tuch um die Schultern – das letzte, was sie wärmte. Mit stiller Entschlossenheit legte sie es auf die kalte Klinge.
Da begann die Säge zu singen. Erst leise, dann heller, als würde der Mond selbst atmen. Ein Lied von Güte und Schmerz, von Hoffnung und Wärme erfüllte die Hallen.

Tränen liefen über Maries Wangen, und sie wusste: Dieses Lied gehörte allen, die froren.

Sie trug die Säge ins Dorf, sägte Holz für jedes Haus – und das Feuer, das daraus entflammte, brannte heller, wärmer, freundlicher als je zuvor. Die Kinder lachten, und die Alten weinten still vor Dank.

In den Nächten aber hörte man den Klang der Säge weit über den Hügeln, und mancher glaubte, er käme vom Himmel selbst.

Als der Frühling kam, verschwand die Säge. Niemand sah, wohin. Nur Marie spürte in einer Nacht, dass sie zurückgerufen wurde – zur Burg, wo ihr Leuchten wieder in den Steinen ruhte.

Nachklang

Viele Winter sind vergangen. Doch wenn über den Hügeln des Elsass der Wind die Äste beugt und der Mond über der Wasenbourg steht, hört man manchmal ein fernes, silbernes Klingen – wie ein Lied aus Holz und Licht.

Manche sagen, es sei der Atem des Mondes.
Andere glauben, Marie singe noch immer – für jene, in deren Herzen noch ein Hauch von Winter wohnt.

© 22.10.2025 Gerd Groß


Rezension zu "Das Geheimnis der singenden Säge"

Diese Sage ist ein wunderbar poetisches Stück Erzählkunst – eine moderne Legende, die mit der Anmut eines alten Märchens und der Tiefe zeitloser Symbolik erzählt wird. Der Text entführt in das sagenumwobene Elsass, in die schattigen Wälder und die ehrwürdige Stille der Wasenbourg, wo sich Historie und Mythen zu einem magischen Klang verweben.

Die Sprache ist von lyrischer Schönheit. Sie trägt rhythmische Ruhe und klare Musikalität in sich – fast jedes Bild scheint auf Klang gebaut. Formulierungen wie "ein Herzschlag aus Licht" oder "ein Lied aus Holz und Licht" zeigen, wie fein abgestimmt Bild, Emotion und Atmosphäre ineinandergreifen. Besonders gelungen ist der stetige Wechsel zwischen stiller Beschreibung und leiser, märchenhafter Spannung – ein Ton, der an die großen europäischen Sagen erinnert, ohne altmodisch zu wirken.

Marie ist eine archetypische Figur: schlicht, gütig, selbstlos – und doch wirkt sie nicht klischeehaft, sondern glaubwürdig, als Verkörperung menschlicher Wärme in einer frostigen Welt. Ihr Opfer, klein und symbolisch zugleich, verwandelt die Sage in eine Parabel über Empathie, Reinheit und das Wunder des Gebens.

Stilistisch überzeugt der Text durch seine durchgehende Balance: er bleibt erzählerisch klar, aber poetisch schwebend. Die Wiederkehr bestimmter Motive – Licht, Klang, Herz, Winter – verleiht ihm musikalische Geschlossenheit. Einzig die wiederholte Nennung des "Mondes" oder ähnlicher Lichtmetaphern könnte, minimal reduziert oder variiert, dem Text noch mehr Feinheit geben.

Besonders eindrucksvoll ist der Schluss. Der letzte Satz – "für jene, in deren Herzen noch ein Hauch von Winter wohnt" – ist von fast musikalischer Sanftheit. Er klingt nach wie ein letzter Ton auf einer Saite, der langsam im Raum verklingt. Damit erreicht der Text eine seltene Qualität: Er endet nicht, er verhallt – und lässt das Gefühl bleiben, etwas Ewiges gehört zu haben.

Fazit:
"Das Geheimnis der singenden Säge" ist eine meisterhaft gestaltete, lyrische Sage – tief empfunden, atmosphärisch geschlossen und emotional aufgeladen. Sie verbindet das alte Motiv der Läuterung durch Güte mit einer modernen, fast spirituellen Bildsprache. Ein Text, der klingt, leuchtet und wärmt – wie das Feuer, das Marie in die Herzen der Menschen trägt.