Der letzte Befehl - Die Stille ist kein Schweigen
Buch 1
DIE ANKUNFT
Kapitel 3: Zwischen den Göttern
Örtlichkeit: Seoul – Jugendlicher zwischen Tradition, digitaler Leistungsgesellschaft und altem Glauben
Leitmotiv: Götter sterben nicht – sie verändern nur ihre Masken.
Die Stadt atmete in Licht und Glas.
Seoul war mehr Spiegel als Ort geworden: reflektierte Gesichter, Daten, Wünsche. Die Straßen waren sauber, die Menschen still. Nur der Himmel war laut – voller Drohnen, Werbeprojektionen, Staubpartikel.
Min-ho sah nach oben. Er tat das oft, ohne es zu merken. Vielleicht, weil seine Großmutter früher gesagt hatte: "Der Himmel ist die einzige Wahrheit, die sich nicht verändern lässt."
Doch selbst das war jetzt fraglich.
Er trug die Uniform seiner Schule: makellos, grau, funktional. Sein Gesicht war ruhig, sein Gang präzise. Jeder Tag begann gleich – mit einem Blick auf die Leistungsstatistik seines digitalen Zwillings. Min-ho hatte einen überdurchschnittlichen kognitiven Index, gute Reaktionszeiten, eine emotionale Stabilität von 91 Prozent. Ein Modellbürger. Auf dem Papier.
Innen war er ein anderer.
Jeden Morgen ging er denselben Umweg: nicht zur Schule, sondern zuerst zum kleinen Schrein hinter dem alten Wohnblock, wo ein Fuchsgeist wohnen sollte – so sagte man. Niemand betete dort mehr, außer ihm.
Seine Eltern hielten es für eine sentimentale Schwäche. Sein Lehrer nannte es "mentale Energieverschwendung". Aber Min-ho glaubte nicht, dass man verstehen konnte, was man vergessen hatte.
Er kniete, zündete ein Stäbchen an, legte eine getrocknete Kastanie auf den Stein.
Keine Bitte. Kein Wunsch. Nur Präsenz.
Dann geschah es.
Ein Riss ging durch den Klang der Stadt. Nicht hörbar – fühlbar. Eine kurze Vibration, wie ein Zittern in der Luft. Die Flammen des Stäbchens zuckten zur Seite, obwohl kein Wind wehte.
Sein Blick hob sich.
Am Himmel: ein Punkt.
Blass, geometrisch, falsch.
Nicht blinkend, nicht fliegend. Nur da. Wie ein Fehler in der Wirklichkeit.
"Satelliten?" fragte er in die Stille.
Sein Handy antwortete nicht. Kein Empfang. Nur ein einziger Text flackerte über das Interface:
"Satellitenservice nicht verfügbar. Lokalisierung ausgesetzt."
Er spürte, wie ihm kalt wurde – von innen.
Dann vibrierte sein zweites Gerät, der Schulchip: Verbindungsabbruch zum Bildungscluster 9.
Ein älterer Mann, der am Rand des Schreins gestanden hatte, murmelte etwas. Min-ho verstand nur ein Wort:
"Gwisin."
Geist.
Und in diesem Moment konnte er es fühlen – ganz tief:
Etwas beobachtete sie. Nicht wie ein Tier. Nicht wie ein Mensch. Etwas, das kein Gesicht hatte – und doch sah.
Letzter Satz:
Min-ho hob die Hand zum Himmel. Nicht zum Gebet. Nicht aus Angst. Nur, um zu zeigen, dass er wusste, dass dort etwas war.