Der letzte Befehl - Die Stille ist kein Schweigen
Buch 1
DIE ANKUNFT
Kapitel 1: Der Lärm der Welt
Örtlichkeit: Deutschland – urbane Mittelklassefamilie, digitalisierte Welt, innere Leere im Überfluss
Leitmotiv: Freiheit im Überfluss ist oft nur die Illusion von Wahl.
Manchmal war es das Summen in den Wänden, das ihn daran erinnerte, dass die Welt noch funktionierte. Ein flaches, kaum wahrnehmbares Brummen aus Routern, Kühlschränken, Displays, Ladegeräten. Technik als Herzschlag der Zivilisation – konstant, routiniert, bedeutungslos.
Felix Berger saß am Fenster seines Hochhauses im siebzehnten Stock. Unter ihm pulsierte die Stadt wie ein überreiztes Nervensystem: selbstfahrende Lieferdrohnen, dichtgepackte Verkehrsadern, flackernde Werbeprojektionen in der Dämmerung. Die Menschen bewegten sich darin wie Datenströme – effizient, richtungslos, voneinander getrennt durch alles, was sie eigentlich verbinden sollte.
Seine Tochter Anna war irgendwo im digitalen Nirgendwo. VR-Helm auf dem Kopf, Noise-Cancelling-Kopfhörer, Tür verschlossen. Ihre Welt war virtuell, ihre Stimme kaum noch real. Manchmal sprach sie mit ihm, aber es klang wie ein Echo aus einem anderen Raum – oder einer anderen Zeit.
"Papa, bitte nicht stören."
"Gleich... ich bin fast durch."
"Wichtig."
Er fragte sich, ob sie überhaupt noch wusste, wovon sie sprach. Er selbst hatte verlernt, was wirklich wichtig war. Früher war es Liebe. Oder Wahrheit. Jetzt war es vor allem: nicht unterzugehen.
Die Wohnung war steril, funktional. Der Tisch bestand aus recycliertem Glasbeton, das Sofa war ein nachhaltiges Leasingprodukt mit ergonomischem Interface. Alles, was sie besaßen, konnte in Echtzeit bewertet, optimiert, ausgetauscht werden – nur nicht ihre Beziehungen. Die waren offline.
Er arbeitete für ein Unternehmen, das Navigationssysteme für autonome Kampfdrohnen entwickelte. Nicht tödlich, natürlich nicht – offiziell. Er schrieb Algorithmen, die dafür sorgten, dass Maschinen nicht zusammenstießen. Verantwortung war etwas, das sich in seiner Welt verflüchtigt hatte wie Kondensstreifen am Himmel.
Sein Chef sprach von Effizienz, seine Kollegen von Skalierung. Keiner sprach mehr von Schuld.
Draußen begann es zu regnen.
Nicht heftig – ein feiner, gleichmäßiger Nieselregen, wie man ihn kaum noch kannte. Selbst der Himmel schien algorithmisch programmiert: sauber, voraussagbar, müde.
Felix beobachtete, wie sich die Tropfen an der Scheibe sammelten und langsam nach unten rannen. Eine chaotische Ordnung. Kein Muster, kein Ziel – nur Bewegung.
In diesem Moment wünschte er sich, dass etwas geschah. Etwas Reales. Etwas, das sich nicht berechnen ließ.
Aber alles, was geschah, war:
Die Kaffeemaschine piepte.
Eine neue Nachricht blinkte auf dem Bildschirm.
Letzter Satz:
Und ganz weit oben, jenseits der Wolken, jenseits des Regens, jenseits der Fragen –
beobachtete jemand die Erde.