Der letzte Befehl - Die Stille ist kein Schweigen

Buch 3

Das letzte Licht


Kapitel 252: Zerfallene Nähe

Örtlichkeit: Transitorischer Raum, Fragmentfeld zwischen Erinnerung und Wahrnehmung
Leitmotiv: Der Klang, der trennt und bindet

Sie gingen auseinander, als wäre zwischen ihnen ein feiner Riss in der Welt entstanden – unsichtbar, aber unüberwindlich. Der Nachklang der inneren Erschütterung hallte noch in ihren Gliedern, wie ein Nachzittern der Seele. Duran hatte als Erster zurückgewichen, ohne ein Wort. Kalima folgte nicht.

Die Luft roch nach Erbarmung – ein eigenartiger, bittersüßer Duft, den keiner zuvor kannte. Die Lichtschatten um sie zogen sich zurück, als wollte der Raum selbst keine Zeugin ihrer Zerbrechlichkeit sein. Was blieb, war das Schweigen zwischen zwei Seelen, die sich eben noch vertraut gewesen waren.

Kalima spürte es zuerst: ein leises Knistern in ihrem Innern, wie das Zerspringen alter Namen. Worte, die nicht mehr zu ihr gehörten. Bilder, die nicht mehr in ihr entstanden, sondern durch sie hindurchgingen. Stimmen, viele – manche in Sprachen, die nie ausgesprochen worden waren. Bin ich noch ich? Sie wollte es sagen, aber der Gedanke fiel auseinander, noch bevor er Form gewann.

Duran hatte sich abgewandt und hämmerte mit bloßen Fäusten gegen eine Wand aus Schatten. Sie gab nicht nach – nicht, weil sie hart war, sondern weil sie nicht wirklich war. "Verschwinde!", schrie er, aber es war seine eigene Silhouette, gegen die er kämpfte. Sie lachte stumm.

Er spürte seine Konturen flackern, nicht äußerlich, sondern in jenem inneren Raum, in dem früher Gewissheit war. "Das bin nicht ich. Das bin nicht ich!", wiederholte er, als wolle er sich selbst festhalten durch Behauptung.

Kalima sah ihn, aber es war, als würde sie ihn durch eine Schicht aus fremden Träumen betrachten. Auch sie fürchtete ihn – nicht weil er fremd geworden war, sondern weil sie in ihm einen Teil erkannte, den sie selbst nicht tragen wollte.

Der Riss hatte sie voneinander abgeschnitten, aber nicht nur voneinander. Auch von dem, was sie waren.

Und dann – inmitten dieses Trennens, dieses stummen, zähen Auseinanderdriftens – flackerte etwas auf. Ein Licht, kein Licht. Ein Bild, kein Bild. Ein Klang, nicht gehört, sondern gespürt: warm, pulsierend, lebendig. Es stieg aus der Tiefe ihrer Erinnerung, gemeinsam. Sie spürten es zugleich.

Die Geburt. Nicht ihre eigene. Eine andere. Der erste Moment, als die Haut des Neuen sich von der Schwärze löste. Das erste Xhorr-Kind, geboren aus Stille, gehalten in Händen, die keine Rasse kannten. Kalima hatte damals gelächelt, Duran hatte gezittert.

Es war das Fragment, das noch in beiden lebte – unversehrt, ungeteilt.

Kalima begann zu weinen. Keine Tränen, sondern Klang: leise, vibrierend, wie das Singen eines absterbenden Sterns. Duran hörte es, und für einen Moment zerbrach das, was ihn trennte. Nicht vollständig – aber genug.

Er wandte sich um, schwankend, zerschlissen. "Du hast es auch gesehen?" Seine Stimme war kaum mehr Stimme.

Kalima nickte. Keine Worte nötig.

Sie standen sich gegenüber wie zwei Flüsse, die lange getrennt liefen und nun an einer Mündung zögerten. Was sie getrennt hatte, war nicht fort. Es war da – aber es war nicht mehr alles.

Zwischen ihnen vibrierte der Klang weiter. Doch diesmal war er nicht Teil des Risses. Er war ein Faden, ein Spaltlicht – etwas, das trennte und verband.

Und dann – aus dem flackernden Schweigen heraus – hob Kalima ihre Hand. Duran zögerte. Dann legte er seine hinein.

Der Raum hielt den Atem an.

Letzter Satz:
Und der Klang zwischen ihnen wurde zu einer Farbe, die es vorher nicht gegeben hatte.