Der letzte Befehl - Die Stille ist kein Schweigen
Buch 3
Das letzte Licht
Kapitel 205: Im Inneren des Gedächtnisses
Örtlichkeit: Der Nullsektor – Zwischen Raum und Erinnerung
Leitmotiv: Der Raum, der nicht außen liegt – Erinnerung als lebendiges Gefäß
Das Schiff war still, fast zu still. Kein Ton durchdrang die Schwärze, doch unter der Oberfläche vibrierte etwas, das keiner benennen konnte. Kalima spürte es zuerst — ein Flimmern in ihrer Brust, ein Flügelschlag in der Stille, ein Summen, das in ihren Gedanken wuchs. Es war, als ob der Nullsektor selbst atmete — nicht mit Luft, sondern mit Erinnerung.
Ashirs Blick glitt zu den Xhorr-Kindern, deren Körper in der Dunkelheit schwebten, leise pulsierend wie ferne Sterne. Sie bewegten sich nicht, sprachen nicht — und doch schien ihre Stille Worte zu formen, Melodien aus längst vergangenen Zeiten, eingewoben in die Adern des Raumes.
Duran fühlte, wie der Boden unter ihnen unsicher wurde. Nicht physisch, sondern in seinem Inneren. Erinnerungen krochen an die Oberfläche, ungefragt und ungebeten. Bilder, Geräusche, Gefühle, die nicht ihm gehörten, sondern einer fremden Geschichte. Sein Herz schlug unregelmäßig, schwer wie ein ferner Donner, der sich in der Tiefe ausbreitete.
"Hier", flüsterte Kalima, "ist kein Ort, den man finden kann. Nur einer, den man fühlt." Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, doch sie zog die Gruppe zusammen, wie ein unsichtbares Band.
Ashir schloss die Augen. Plötzlich war er nicht mehr in der kargen Dunkelheit des Raumes, sondern in einem Strom aus Farben und Formen, die sich in seinem Bewusstsein ausbreiteten — Erinnerungen, nicht seine eigenen, aber lebendig, brennend, unvermittelt echt. Es war, als würde das Gedächtnis der Xhorr sie einladen, einzutauchen, zu sehen, zu verstehen.
Eine Berührung, sanft und flüchtig, berührte seine Seele — kein körperlicher Kontakt, sondern eine Übertragung von Sein zu Sein. Gefühle schwappten durch ihn: Angst und Verlust, Hoffnung und Mut, das uralte Lied von Heimat und Exil.
Kalima öffnete die Augen und sah Ashir an. Kein Wort wurde gesprochen, doch ihre Seelen kommunizierten im Schweigen. Ein Strom von Empfindungen, eine stille Konversation — Verständnis ohne Sprache.
Duran kniete nieder, seine Hand legte sich auf den kühlen Boden des Schiffes. "Wir sind hier nicht mehr wir selbst", sagte er leise. "Nicht Mensch. Nicht Xhorr. Etwas dazwischen. Etwas, das noch geboren werden muss."
Die Stille dehnte sich aus, wurde dichter, fast greifbar. Der Raum um sie herum begann zu flimmern, als würde die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmen. Der Nullsektor war kein bloßer Ort. Er war ein lebendiger Spiegel — ein Gefäß, das Erinnerungen bewahrte und weitergab.
Kalima atmete tief ein. Ihr Herz pochte, ein Echo in der Dunkelheit. "Wir tragen mehr als nur unsere Geschichte", flüsterte sie. "Wir tragen die Geschichten von anderen. Von denen, die vor uns kamen — und von denen, die noch kommen werden."
Ein leises Knistern durchbrach die Stille. Die Xhorr-Kinder bewegten sich, langsam, fast zerbrechlich, und eine von ihnen streckte eine Hand aus — nicht zu berühren, sondern zu zeigen. Ein holografisches Bild entstand in der Luft: eine Landschaft, weit und still, voller alter Steine und vergessener Schatten.
"Dies ist das Gedächtnis", sagte Ashir mit bebender Stimme. "Nicht geschrieben, nicht gesprochen. Es lebt."
Duran sah in die Gesichter der anderen, die verwirrt, verängstigt und doch fasziniert waren. "Wenn das hier unser neuer Raum ist — wer sind wir dann, wenn wir nichts mehr festhalten können?"
Die Antwort blieb aus. Nur der Nullsektor antwortete — in einem Flüstern, das zugleich fern und nah war, wie ein Atemzug, der nicht endet.
Der letzte Satz:
Und in diesem Atem lag die Wahrheit — oder der Anfang von etwas, das noch keinen Namen hatte.