Die schöne Melusine und Sebald, der Sünder von Staufenberg

(Nacherzählung einer Sage aus Durbach bei Schloss Staufenberg)


Im lieblichen Durbachtal, unter dem stolzen Blick von Schloss Staufenberg, wo die Reben in der Sonne reifen und der Weingeist wohnt, liegt verborgen der finstere Stollenwald. Und in diesem Wald, so flüstern die Altvorderen beim Viertele Wein, geht seit ewigen Zeiten die schönste und grausamste aller Sagenfiguren um: die Melusine.

Einst, als die Vögel noch ihr Nest in den Dornen der alten Stollenburg bauten, lebte Sebald, der leichtsinnige Sohn des Amtmanns von Staufenberg. An einem Sommermorgen ging er im Stollenwald auf Vogelfang, als er einen Gesang hörte – lieblicher, als es je eine Menschenkehle hervorbringen konnte, zugleich wehmütig und verlockend.

Er folgte dem Gesang, bis er an eine Waldlichtung kam. Dort, auf einem Felsen, saß eine Frau von solcher Schönheit, dass Sebald der Atem stockte. Ihr Haar war wie flüssiges Gold, ihre Augen funkelten wie Karfunkelsteine – ein Leib von Anmut, nicht von dieser Welt.

"Ich bin Melusine", sprach sie mit einer Stimme, die wie das Murmeln eines Bergquells klang. "Lange habe ich auf dich gewartet, Sebald. Ich bin verwunschen, und nur du kannst mich erlösen."

Sebald war augenblicklich von unbändiger Leidenschaft erfasst. "Was verlangst du von mir, holde Frau? Sprich, und ich will dein Diener sein bis ans Ende der Zeit."

Die Schöne lächelte geheimnisvoll. "Die Tat ist einfach, der Preis ist die Treue deines Herzens. Du musst mich an drei aufeinanderfolgenden Tagen küssen, morgens, genau um neun Uhr in der Frühe. Drei Küsse auf jede Wange, und der letzte auf meinen Mund. Wenn du es wagst und pünktlich bist, ist meine Erlösung gesichert, und mein großer Brautschatz wird dein sein."

Sebald schwor es ihr mit zitternder Lippe.

Am ersten Morgen eilte Sebald, kaum dass die Uhr im Turm neunmal schlug, zum Felsen im Stollenwald. Melusine erwartete ihn. Er küsste ihre kühlen Wangen, dann ihren betörenden Mund. Ein Schauer durchfuhr ihn, und Melusine sah für einen Augenblick unendlich glücklich aus.

Am zweiten Tag war Sebald schon weniger eifrig. Er hatte lange beim Wein gesessen, und der Ruf des Alltags drängte ihn spät hinaus. Doch er besann sich auf den Schatz und die Schönheit, rannte los und schaffte es gerade noch, um kurz vor neun die Küsse zu entrichten. Die Macht der Melusine, das spürte er, war beinahe gebrochen. Sie lächelte noch einmal das himmlische Lächeln der Hoffnung.

Doch die Versuchung des Weltlichen war stärker als das Versprechen an die Unsterbliche. Sebald war ein Kind des Luxus. Sein Vater drängte ihn, die Tochter eines einflussreichen Vogtes zu ehelichen – eine reiche Partie, die seine Stellung sichern sollte.

Sebald kämpfte in jener Nacht mit seiner Seele. Er spürte, dass er den Traum verriet, den er selbst erträumt hatte – die Sehnsucht nach einem Wunder. Und doch wog der Wille, seinem Vater und der Vernunft zu gefallen, schwerer als das Versprechen an den Geist. Die Pflicht und die greifbare Sicherheit siegten über die Leidenschaft.

Am dritten Morgen wachte Sebald spät auf. Er schlug die Augen auf, sah das helle Licht durchs Fenster fallen und hörte das läutende Neun-Uhr-Schlagen vom Turm. Ein Stich traf sein Gewissen, doch er wandte sich weg. Er blieb liegen und versagte ihr die Erlösung.

Kurz darauf feierte Sebald seine prächtige Hochzeit mit der Vogts-Tochter auf Schloss Staufenberg. Die Tafeln bogen sich unter Speis und Trank, und die Hallen dröhnten vom Gesang der Gäste. Sebald saß als strahlender Bräutigam an der Ehrentafel und prostete den Seinen zu.

Mitten im Jubel und Gelächter erstarrte plötzlich die Musik. Es war, als ob ein unsichtbarer, eiskalter Hauch durch den Saal glitt. Das Lachen erstarb, das Klirren der Gläser verklang zu einem leisen, unheilvollen Ton. Sebald spürte eine aufsteigende Kälte, die ihm das Blut gefrieren ließ.

Er blickte auf seinen Teller, wo er gerade vom Wildbraten kosten wollte. Dort lag, unbemerkt von allen anderen, ein winziger, feuchter Tropfen auf dem Fleisch. Es war nur ein Tropfen, klar wie Wasser, doch von tiefer Schwärze umschlossen. Ehe Sebald sich rühren konnte, hatte er einen Bissen genommen.

Im selben Augenblick erstarrte der Bräutigam, seine Augen weiteten sich in panischem Entsetzen. Ein grausamer, unirdischer Schmerz durchfuhr ihn. Er kippte tot vom Stuhl, und die Festgesellschaft stürzte in panisches Schweigen.

Oben, in den dunklen Balken der Decke, zuckte ein kalter Schuppenschwanz, der sich in sein Versteck zurückzog. Es war die Rache der verfluchten, aber unsterblichen Melusine. Der Tropfen, der Sebald das Leben nahm, war die Essenz ihres gebrochenen Herzens.

Die Melusine ist erlösungslos geblieben und soll seit jener Zeit im Stollenwald umgehen. Spaziergänger auf dem Weg zur Burg hören manchmal ihren Klaggesang im Wind, ein trauriges Mahnmal an den, der Treue schwor und sie dann für die Güter der Welt brach.

Hüte dich, Wanderer, wenn du die geheimnisvollen Pfade betrittst, denn die schöne Melusine wartet noch immer im Stollenwald – auf den, der wagt, was Sebald versäumte.

(Diese romantische Sage basiert auf einer alten Überlieferung aus der Ortenau, die oft mit der Staufenburg bei Durbach verbunden wird. In einigen Fassungen trägt der Ritter den Namen Peter Diemringer, in anderen, wie hier, Sebald, der Sohn eines Amtmanns.)

© 21.10.2025 Gerd Groß 


Rezension: "Die schöne Melusine und Sebald, der Sünder von Staufenberg"

Gerd Groß gelingt mit dieser Nacherzählung der Durbacher Sage um die Melusine ein beeindruckend atmosphärisches Stück moderner Sagenkunst. Der Text verbindet den Klang alter Überlieferung mit einer zeitgemäß fließenden, bildkräftigen Sprache, die zwischen Romantik, Tragik und feiner Morallehre oszilliert.

Bereits der Auftakt verankert die Geschichte fest in der badischen Landschaft: "Im lieblichen Durbachtal, unter dem stolzen Blick von Schloss Staufenberg…" – dieser Eingangssatz öffnet die Szenerie mit malerischer Präzision und ruft den Leser in ein geographisch greifbares, zugleich mythisch aufgeladenes Baden herauf. Die Naturbeschreibung dient nicht bloß als Kulisse, sondern als atmender Resonanzraum der Sage: Wald, Wein und Wasser bilden ein Symbolgefüge aus Verführung, Vergänglichkeit und Verstrickung.

Inhaltlich hält sich der Text eng an den klassischen Melusinen-Mythos, aber durch die Figur des Sebald – einem menschlich fehlbaren, sinnlich getriebenen jungen Mann – gewinnt die Geschichte emotionale Tiefe. Die Versuchung, die zwischen Liebe und Pflicht, Geist und Welt steht, wird feinfühlig, aber mit erzählerischer Wucht entfaltet. Besonders eindrucksvoll ist die Szene des dritten Morgens, in der Sebald das Neun-Uhr-Schlagen hört und dennoch liegenbleibt – ein Moment größter moralischer Spannung, der in seiner Schlichtheit beklemmend wirkt.

Die Sprache ist reich an Rhythmus und Symbolik. Groß arbeitet mit klassisch-romantischen Motiven ("Haar wie flüssiges Gold", "Augen wie Karfunkelsteine") und verleiht ihnen zugleich eine melancholische, moderne Note. Der letzte Teil – Sebalds Tod durch den "Tropfen, klar wie Wasser, doch von tiefer Schwärze umschlossen" – ist ein literarischer Höhepunkt: poetisch, suggestiv und grausam-schön zugleich.

Besonders stark ist das motivische Gleichgewicht: Der Text ist sowohl eine Erzählung über gebrochene Treue als auch eine Reflexion über menschliche Schwäche. Die Melusine bleibt keine Rachefigur, sondern eine tragische Erscheinung zwischen Liebe und Verfluchung – ihr "Klaggesang im Wind" klingt noch lange nach.

Der abschließende Hinweis auf die historischen Varianten der Sage und der warnende Epilog "Hüte dich, Wanderer…" runden das Stück gekonnt ab. Es entsteht der Eindruck einer alten Chronik, neu erzählt, doch mit der Seele der mündlichen Überlieferung.

Fazit:
Ein atmosphärisch dichtes, literarisch ausgereiftes Stück Sagenprosa. Gerd Groß verbindet historische Tiefe mit erzählerischer Eleganz. Seine "Melusine von Staufenberg" ist nicht nur ein gelungenes Beispiel moderner Heimatliteratur, sondern auch ein leises Gleichnis über die ewige Spannung zwischen Treue, Versuchung und dem Preis menschlicher Bequemlichkeit.

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