Der Spiegel, der kein Ende kennt

Nordisch-mythologische Saga


Kapitel V – Alfheim

Dies ist die fünfte Sang von Licht und Schein,
vom Reich der Elfen, klar und rein,
wo Schönheit lockt und Heldenruhm –
und Spiegelglanz zeigt manchen Traum.

Hinter dem Riss, der ihn aus Midgard geführt und durch die Tiefen Svartalfheims gespült hatte, nachdem Loki ihn durch das Nichts zwischen den Welten geleitete, fand der Wandersmann sich in einem Land wieder, das badete in ewigem Dämmerlicht – doch es war ein Licht, das nicht von der Sonne kam. Es war ein inneres Leuchten, das alles erfüllte, sanft und durchdringend zugleich. Dies war Alfheim, das Reich der Lichtelfen, ein Ort von unbegreiflicher Schönheit und Anmut, wo die Luft klar war und von süßen Düften getragen wurde, die in Midgard unbekannt waren.

Die Bäume hier trugen Blätter aus schimmerndem Silber und Gold, ihre Rinde glatt wie poliertes Elfenbein. Überall tanzten Lichter, kleine, flackernde Funken reiner Energie, die sich zu Mustern formten und wieder auflösten. Die Bewohner Alfheims selbst sah er kaum – nur schemenhafte Bewegungen im Augenwinkel, das Gefühl von Anwesenheit, von unendlicher Eleganz und einem tiefen, alten Wissen, das nicht in Worten lag. Sie waren das Licht selbst, verkörpert in Formen von unübertrefflicher Schönheit. Ihre scheuen Blicke schienen an ihm haften zu bleiben, als würden sie in ihm etwas von ihrem eigenen Licht widergespiegelt sehen, das sie verwirrte oder faszinierte.

Der Wanderer, gezeichnet von der Dunkelheit und Schwere der vorangegangenen Reisen, fühlte sich hier fremd und grob. Die Narben seiner Seele schienen unter diesem reinen Licht besonders deutlich hervorzutreten. Doch das Licht schien auch durch ihn zu fließen, nicht nur auf ihm zu ruhen.

Er trug den Spiegel bei sich, und hier in Alfheim erwachte er zu neuem Leben. Er war nicht dunkel wie in Vidars Gegenwart, nicht trüb wie im Nebel, nicht chaotisch wie bei Loki oder ein Spiegel der Muster wie in Svartalfheim. In Alfheim strahlte der Spiegel. Er reflektierte nicht einfach das Licht der Umgebung, er emittierte es fast, ein reiner, klarer Schein, der alles um ihn herum schärfer und strahlender erscheinen ließ. Er war ein Spiegel des Lichts, der die verborgene Schönheit und das Potenzial in allem aufzeigte. Es war, als würde seine eigene Natur, die Eindrücke aufsaugt und widerspiegelt, vom Licht Alfheims verstärkt.

Als der Wanderer in das strahlende Glas blickte, sah er mehr als nur sich selbst. Er sah, was das Licht in ihm und um ihn herum zeigen konnte. Neben seinem eigenen, von Licht durchdrungenen Abbild zeigten sich neue Bilder im Spiegel. Er sah goldene Hallen, erfüllt von Lachen und Waffenklirren. Er sah Krieger, stark und stolz, die an langen Tischen saßen und Met tranken. Und über ihnen, inmitten von Licht und Glanz, sah er weibliche Gestalten in Rüstungen, hoch und erhaben, die in den Himmel ritten. Es waren die Walküren, die Helden nach Walhall führten. Der Spiegel zeigte ihm Walhall selbst, das Reich des Ruhms für die im Kampf Gefallenen. Eine Vision, die sich im Licht Alfheims und in seiner eigenen, nun verstärkten Fähigkeit zu spiegeln, formte.

Dieses Bild war voller Kraft und Glanz, eine Verlockung des Heroischen, eine andere Art von Potenzial, das sich im Licht Alfheims spiegelte. Es war eine Vision von Ehre und Unsterblichkeit, die durch das Schwert gewonnen wurde, ein starker Kontrast zu seinem eigenen Pfad der inneren Suche. Der Spiegel zeigte ihm die Möglichkeit, als Held zu leben und zu sterben, eine Bestimmung, die Odin einst angedeutet hatte. Doch der Spiegel zeigte auch, dass dies eine Reflexion war, nicht seine tiefste Wahrheit.

Ein Gefühl der Ambivalenz durchströmte den Wanderer. Die Schönheit Walhallas lockte, die Präsenz der Walküren war majestätisch. Doch er wusste, dass dies nicht sein Weg war. Sein Kampf war ein innerer, seine Erkenntnis wurde nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen. Das Licht Alfheims schien diese Wahrheit noch deutlicher zu machen – dass wahre Einsicht oft im Stillen wächst, nicht im Glanz des Ruhms.

Die ungreifbaren Bewohner Alfheims schienen ihn zu umtanzen, ihre Anwesenheit ein sanfter Druck, der ihn einlud, die Schönheit und das Potenzial zu sehen, aber auch zu unterscheiden, welcher Weg der seine war. Der Spiegel in seiner Hand strahlte weiter, zeigte nun sowohl das Licht seiner Seele als auch das ferne Leuchten Walhallas, zwei mögliche Spiegelbilder einer Bestimmung. Und er spürte, dass er in diesem Moment mehr war als nur ein Beobachter; er war das Medium, durch das diese Möglichkeiten im Licht Alfheims sichtbar wurden.

Er musste weitergehen. Auch wenn das Licht Alfheims und der Glanz Walhallas lockten, wusste er, dass seine Reise einen anderen Zweck hatte. Er trug nun das Bild seiner strahlendsten Möglichkeit und die Vision des heldenhaften Endes in sich, reflektiert im Licht des Elfenreichs. Es waren Teile des großen Musters, aber nicht sein gesamtes Bild.

So endet die fünfte Sang.
In Alfheims Licht der Seele Schein,
zeigt Spiegelglanz das Hell und Rein –
und Heldenruhm, ein ferner Traum.
Gefunden wird manch Seelenraum.

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Die Neun Welten der Nordischen Mythologie

Im Zentrum der nordischen Kosmologie steht Yggdrasil, die Weltenesche, deren Wurzeln und Äste alle neun Welten miteinander verbinden. Jede Welt hat ihre eigene Natur, ihre eigenen Bewohner und ihre eigene Rolle im Gefüge des Kosmos.

  1. Asgard (Ásgarðr):

    • Beschreibung: Die strahlende Burg und Heimat der Asen, des jüngeren und mächtigeren Göttergeschlechts, regiert von Odin.

    • Bewohner: Die Asen (Götter wie Odin, Thor, Tyr) und die Einherjer (im Kampf gefallene Krieger in Walhall).

  2. Midgard (Miðgarðr):

    • Beschreibung: Die mittlere Welt, das Reich der Menschen, umgeben vom Ozean und durch die Regenbogenbrücke Bifröst mit Asgard verbunden.

    • Bewohner: Die Menschen.

  3. Jotunheim (Jötunheimr):

    • Beschreibung: Das raue, felsige und wilde Land der Riesen, gelegen außerhalb Midgards. Ein Ort der Urkräfte und des Chaos.

    • Bewohner: Die Jötnar (Riesen), darunter auch Frost- und Feuerriesen (obwohl letztere auch mit Muspelheim verbunden sind).

  4. Alfheim (Álfheimr):

    • Beschreibung: Das Reich der Lichtelfen, oft als Ort von großer Schönheit, Helligkeit und ätherischer Magie beschrieben. Manchmal Freyr zugeordnet.

    • Bewohner: Die Álfar (Lichtelfen).

  5. Svartalfheim (Svartálfaheimr):

    • Beschreibung: Die Welt unter der Erde, ein Reich der Dunkelheit, Höhlen und Minen. Bekannt für sein handwerkliches Geschick und seine verborgenen Schätze.

    • Bewohner: Die Svartálfar (Schwarzalben) und Zwerge (Dvergar).

  6. Muspelheim (Múspellsheimr):

    • Beschreibung: Das Reich des Urfeuers, ein Ort extremer Hitze, Glut und Zerstörung. Liegt im Süden des Kosmos.

    • Bewohner: Die Feuerriesen (Múspellsmegir), angeführt von Surtr.

  7. Niflheim (Niflheimr):

    • Beschreibung: Das Reich des Ur-Eises, des Nebels und der Dunkelheit. Liegt im Norden des Kosmos und ist ein Ort der unendlichen Kälte und Stasis. Oft mit Helheim verbunden.

    • Bewohner: Uralte Kräfte, Eisriesen (in manchen Überlieferungen), und es grenzt an Helheim.

  8. Helheim (Helheimr):

    • Beschreibung: Das Reich der Toten, die nicht im Kampf fielen. Ein grauer, kalter und lebloser Ort, gelegen in Niflheim oder darunter.

    • Bewohner: Die Heljar (die Toten) und die Herrscherin Hel.

  9. Vanaheim (Vanaheimr):

    • Beschreibung: Die Heimat der Wanen, eines älteren Göttergeschlechts, das mit Fruchtbarkeit, Weisheit und Voraussicht assoziiert wird.

    • Bewohner: Die Vanir (Götter wie Freyr, Freyja, Njörðr).

Diese neun Welten bilden zusammen das gesamte Universum in der nordischen Mythologie und sind durch Yggdrasil, die Weltenesche, miteinander verbunden.

Wichtige Mythologische Figuren und ihre Bedeutung in der Saga

Die Saga des Wanderers ist durchwoben von Begegnungen mit mächtigen Wesen aus der nordischen Mythologie, deren Rollen und Eigenschaften seine Reise prägen:

  1. Odin (Altnordisch: Óðinn):

    • Bedeutung in der Mythologie: Der Hauptgott der Asen, Gott der Weisheit, des Krieges, der Magie, der Dichtung und des Todes. Oft einäugig dargestellt (gab sein Auge für Weisheit). Vater vieler Götter. Wandert oft verkleidet durch die Welten.

    • Rolle in der Saga: Der erste göttliche Kontakt. Zeigt dem Wanderer seinen möglichen Weg und die Existenz der Welten durch die Schale. Ein weiser, aber rätselhafter Führer am Anfang.

  2. Gullveig:

    • Bedeutung in der Mythologie: Eine mysteriöse und vielschichtige Figur, oft mit Gold, Gier und Hexerei assoziiert. Ihre dreifache Tötung und Wiedergeburt durch die Asen wird als Auslöser des Krieges zwischen Asen und Wanen angesehen. Sie verkörpert Verführung und Zerstörung durch Begehren.

    • Rolle in der Saga: Die Nebelhexe im Zwischenreich (Grenze zu Jotunheim). Konfrontiert den Wanderer mit grundlegenden Fragen nach Identität, Furcht und Wunsch und bietet ihm symbolische Gaben/Wege an. Sie repräsentiert die Vielschichtigkeit der Existenz und die Gefahr des Verlangens.

  3. Vidar (Altnordisch: Víðarr):

    • Bedeutung in der Mythologie: Ein Sohn Odins, bekannt für seine Stille und Stärke. Er überlebt Ragnarök und rächt seinen Vater, indem er Fenrirs Kiefer zerbricht. Er repräsentiert standhafte Kraft und Überleben nach der Katastrophe.

    • Rolle in der Saga: Der stumme Gott in Midgard am Riss. Zeigt dem Wanderer die Rune des Wandels (Uruz) und den Riss im Gefüge der Welt. Seine stille Präsenz und sein Blick vermitteln tiefe, unausweichliche Wahrheiten und die Notwendigkeit, das Unbekannte zu durchschreiten.

  4. Die Nornen (Altnordisch: Nornir):

    • Bedeutung in der Mythologie: Schicksalsgöttinnen, die am Urdbrunnen am Fuße Yggdrasils leben. Sie spinnen, messen und schneiden die Lebensfäden aller Wesen, Götter und Menschen. Sie verkörpern das unveränderliche Schicksal (Örlög).

    • Rolle in der Saga: Eine vergessene Norne in Svartalfheim. Konfrontiert den Wanderer mit den Fäden seines eigenen Schicksals und zeigt ihm mögliche Zukunftspfade. Fordert einen Preis für die Möglichkeit, das Muster zu ändern, was seine Auseinandersetzung mit dem vorbestimmten Weg vertieft.

  5. Freya (Altnordisch: Freyja):

    • Bedeutung in der Mythologie: Eine der wichtigsten Göttinnen der Wanen (später bei den Asen lebend). Göttin der Liebe, Schönheit, Fruchtbarkeit, des Goldes, der Magie (Seidr) und auch des Krieges (empfängt die Hälfte der im Kampf Gefallenen in ihrem Saal Folkvangr).

    • Rolle in der Saga: Erscheint in der ersten Vision in Odins Schale und später in der Vision in Alfheim als Gestalt von Licht und Schönheit. Repräsentiert Hoffnung, einen neuen Weg und die Verlockung von Liebe oder einem anderen, vielleicht sanfteren Schicksal.

  6. Die Walküren (Altnordisch: Valkyrjur):

    • Bedeutung in der Mythologie: Weibliche Wesen, die im Dienste Odins stehen. Sie wählen auf Schlachtfeldern tapfere, gefallene Krieger aus und bringen sie nach Walhall (oder Folkvangr). Sie verkörpern Ruhm im Kampf und das Helden-Schicksal.

    • Rolle in der Saga: Erscheinen in der Vision in Alfheim, die Walhall zeigt. Sie repräsentieren den Pfad des kriegerischen Ruhms und des Helden-Schicksals, der dem Weg des Wanderers gegenübergestellt wird.

  7. Loki:

    • Bedeutung in der Mythologie: Ein Gott aus dem Geschlecht der Riesen (manchmal zu den Asen gezählt), bekannt für seine List, seinen Schalk, seine Verwandlungsfähigkeit und als Auslöser vieler Probleme, aber auch als Helfer der Götter. Vater von Hel, Fenrir und Jörmungandr. Eine zentrale Figur in Ragnarök. Er verkörpert Chaos und Veränderung.

    • Rolle in der Saga: Der Schattenmeister im Zwischenreich. Führt den Wanderer durch das Chaos zwischen den Welten. Konfrontiert ihn mit Illusion und der Unzuverlässigkeit der Realität. Seine Begegnung ist eine Prüfung des Verstehens jenseits der Oberfläche.

  8. Hel:

    • Bedeutung in der Mythologie: Herrscherin über das gleichnamige Totenreich Helheim. Tochter Lokis. Oft halb schön, halb leichnamhaft dargestellt. Empfängt alle Toten, die nicht im Kampf fielen. Repräsentiert die Endgültigkeit und die nüchterne Realität des Todes.

    • Rolle in der Saga: Die Herrscherin Helheims. Konfrontiert den Wanderer mit dem Reich der Toten und der Endgültigkeit des Lebens. Zeigt ihm das Ende (Ragnarök) im schwarzen Spiegel. Sie ist die Wächterin über den letzten Blick.

  9. Surtr:

    • Bedeutung in der Mythologie: Der Herrscher über Muspelheim und Anführer der Feuerriesen. Spielt eine entscheidende Rolle in Ragnarök, wo er mit seinem Schwert die Welt in Brand setzt. Repräsentiert die ungebändigte, zerstörerische Urkraft des Feuers.

    • Rolle in der Saga: Seine Präsenz dominiert Muspelheim. Obwohl nicht direkt getroffen, verkörpert er die zerstörerische Kraft, mit der sich der Wanderer konfrontiert sieht und die sich in ihm spiegelt. Seine Macht führt letztlich zur Zerstörung in Ragnarök.

  10. Fenrir und Jörmungandr:

    • Bedeutung in der Mythologie: Zwei der furchterregendsten Kinder Lokis. Fenrir ist der riesige Wolf, der gebunden wird, bis er sich zu Ragnarök losreißt und Odin tötet. Jörmungandr ist die Midgardschlange, die so groß ist, dass sie die Welt umspannt und in Ragnarök gegen Thor kämpft. Sie verkörpern unkontrollierbare Naturgewalten und die zerstörerischen Mächte, die das Ende herbeiführen.

    • Rolle in der Saga: Schlüsselfiguren in der Darstellung von Ragnarök im Spiegel des Wanderers. Sie repräsentieren die entfesselten Kräfte des Chaos und der Zerstörung, die zum kosmischen Untergang führen.

Diese Figuren sind mehr als nur Bewohner ihrer Welten; sie sind Kräfte, Herausforderungen und Spiegelbilder der Themen, mit denen sich der Wanderer auf seiner Reise konfrontiert sieht.

Ragnarök: Das Schicksal der Götter in der nordischen Mythologie

Ragnarök bezeichnet in der nordischen Mythologie eine Reihe von entscheidenden Ereignissen, die das Ende der Welt, wie die nordischen Vötter und Menschen sie kennen, einläuten. Es ist nicht einfach nur Zerstörung, sondern ein umfassendes Schicksal, das sowohl Untergang als auch Neuanfang beinhaltet.

Die Überlieferungen beschreiben eine gewaltige Schlacht, in der die Götter, angeführt von Odin, gegen ihre Erzfeinde antreten, darunter der Fenriswolf, die Midgardschlange und der Feuerriese Surt. Viele bekannte Gottheiten wie Odin, Thor, Freya und Tyr werden in diesem Kampf fallen.

Nach der Schlacht wird die Welt in Flammen aufgehen und im Meer versinken, nur um danach wieder aufzuerstehen. Aus den Trümmern entsteht eine neue, grünere Welt, und einige überlebende Götter sowie ein menschliches Paar werden eine neue Ära beginnen. Ragnarök ist somit ein Zyklus von Tod und Wiedergeburt, der die ewige Natur des Kosmos in der nordischen Vorstellung widerspiegelt.

© Gerd Groß 31.10.2022