Das Geheimnis des Laufbachwasserfalls
Ein Märchen aus Loffenau
Die Abendsonne tauchte Loffenau in goldenes Licht. Zwischen den Fachwerkhäusern spiegelten sich die letzten Strahlen in den Fenstern, und die Teufelsmühle auf dem Hausberg thronte wie ein stiller Wächter über dem Tal. Lina strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, zog die Kapuze ihres Umhangs fester über die Schultern und atmete den Duft von Moos und Wasser ein.
"Bist du sicher, dass wir das machen sollten?" Jonas' Stimme zitterte leicht, während er hinter ihr auf dem schmalen Pfad balancierte. "Der Wasserfall sieht aus, als könnte er uns verschlucken."
Lina lächelte schwach. "Ich weiß… aber etwas in mir sagt, dass wir dort etwas finden werden, das wichtiger ist als Angst." Ihr Blick wanderte durch die Nebelschwaden, die aus dem Laufbachwasserfall stiegen, und glitzernde Tropfen funkelten wie kleine Sterne.
Jonas schnaubte, halb amüsiert, halb besorgt. "Na gut… aber wenn ich nass werde oder ins Wasser rutsche, bist du schuld."
"Abgemacht", sagte Lina und kicherte. Dann wurde ihr Gesicht ernst. "Aber wir passen aufeinander auf, versprochen?"
"Versprochen", erwiderte Jonas, und ein zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Am Fuß des Wasserfalls teilte sich plötzlich der Nebel wie von unsichtbarer Hand, und aus dem sprühenden Wasser formte sich eine Gestalt – halb Mensch, halb Wasser, mit Augen, die wie flüssiges Licht glühten, und Haaren, die wirbelnde Strudel bildeten.
"Ich bin Nebelion, geboren aus den Nebeln des Falls", hallte die Stimme durch die Schlucht, als käme sie aus dem Wasser selbst. "Nur wer die Schatten in sich selbst überwindet, darf den Kristall sehen."
Jonas schluckte. "Schatten in uns… meinst du… unsere Ängste?"
Lina nickte. "Vielleicht unsere Zweifel, unsere Unsicherheit. Aber wir müssen sie zusammen überwinden."
Der Nebel wirbelte dichter, und aus den Schatten formten sich dunkle Umrisse – flüchtige Gestalten, die sich bewegten, wenn man sie betrachtete. Sie schienen die Sorgen der Kinder zu spiegeln, ihre inneren Stimmen zu flüstern. Jonas spürte, wie seine Knie weich wurden. Ich darf jetzt nicht nachgeben. Lina vertraut mir… ich muss stark sein.
Plötzlich rutschte ein Felsbrocken vom Ufer, rollte bedrohlich auf ihn zu. Lina packte seine Hand. "Nicht loslassen!", rief sie. Ihre Stimme klang wie ein Befehl, fast wie ein Zauber gegen die Angst. Jonas spürte den Griff, warm und fest, und schöpfte Mut daraus.
Gemeinsam kämpften sie sich über glitschige Steine und spritzendes Wasser. Funken glitzernder Wasserwesen – halb Libellen, halb Tropfen – wirbelten um sie, flüsterten Mut und leuchteten wie winzige Sterne. Jonas spürte, wie das Herz in seiner Brust ruhiger schlug, als er Linas Hand hielt. Wir schaffen das, solange wir zusammenhalten.
Endlich öffnete sich hinter dem größten Vorhang aus Wasser eine Höhle. In ihrem Inneren schwebte der Kristall, pulsierend wie ein Herz aus Licht. Farben tanzten auf seiner Oberfläche, Regenbogen wie Flammen, die von innen glühten.
"Er ist… wunderschön", flüsterte Lina. Ihre Finger zitterten, als sie nach dem Kristall griff. In dem Moment zerfiel er in tausend Funken, die wie kleine Sterne durch die Höhle wirbelten und warm in ihre Herzen sanken.
Jonas lächelte. "Es ist, als würde er sagen: Wir haben es geschafft. Zusammen."
Die Schatten zogen sich zurück, die Wasserwesen verschwanden, und der Wasserfall rauschte wieder klar und silbern. Lina und Jonas traten hinaus, Hand in Hand, und blickten auf das friedliche Dorf Loffenau. Die Teufelsmühle stand still und unbewegt wie eh und je. Doch sie wussten: Sie hatten einen Ort betreten, der anders war als alles, was sie je gesehen hatten.
Von diesem Tag an trugen Lina und Jonas das Licht des Kristalls in ihren Herzen – eine Kraft, die Mut, Vertrauen und Zusammenhalt stärker machte als jede Angst, jeden Schatten und jede Prüfung des Lebens.
"Und wenn sie je zweifelten, leuchtete das Licht des Kristalls in ihnen – heller als jeder Schatten, und zwar so, dass das Licht vielleicht eines Tages jemand anderem den Weg weisen könnte."
© Gerd Groß 01.10.2025
🌿 Rezension
Ein Märchen voller Licht, Mut und Verbundenheit – poetisch verwurzelt im Schwarzwald
Mit "Das Geheimnis des Laufbachwasserfalls" gelingt Gerd Groß ein modernes Heimatmärchen, das die Schönheit der Natur mit zeitloser Symbolik und emotionaler Tiefe verbindet. Schauplatz ist das idyllische Loffenau im Schwarzwald, dessen Landschaft mit feinem Sinn für Atmosphäre geschildert wird: "Die Abendsonne tauchte Loffenau in goldenes Licht." – schon der erste Satz öffnet einen sinnlichen Raum, in dem sich Realismus und Magie mühelos durchdringen.
Die Protagonisten, Lina und Jonas, sind nicht nur Kinder auf einem Abenteuerpfad, sondern auch Sinnbilder für Vertrauen und Freundschaft in einer Welt, die zwischen Furcht und Hoffnung schwankt. Der Autor schafft es, ihre Unsicherheiten – und ihr Wachsen darüber hinaus – kindgerecht, aber nie kindisch zu erzählen. Der Dialog ist lebendig, glaubwürdig, und vermittelt eine feine Balance zwischen Humor und Ernst: "Na gut… aber wenn ich nass werde oder ins Wasser rutsche, bist du schuld." – "Abgemacht."
Im Zentrum steht die Begegnung mit Nebelion, einer Wassergeistfigur, die mythologische Tiefe verleiht und das Märchen aus dem Alltäglichen hebt. Nebelion ist kein klassischer Helfer, sondern ein Prüfstein – eine Stimme aus Natur und Seele zugleich. Die Botschaft, "Nur wer die Schatten in sich selbst überwindet, darf den Kristall sehen", entfaltet eine moralische Resonanz, die weit über das Märchenhafte hinausreicht. Sie spricht von innerer Reifung, Selbstüberwindung und der Kraft des Miteinanders.
Stilistisch überzeugt der Text durch klare, bildhafte Sprache und eine poetische Tonlage, die ohne Kitsch auskommt. Die Naturbeschreibung ist nicht bloß Kulisse, sondern Spiegel der inneren Vorgänge – der Nebel, das Licht, das Wasser werden zu Seelenbildern. Besonders die Passage, in der der Kristall sich in "tausend Funken" auflöst, die "warm in ihre Herzen sanken", ist eine gelungene Allegorie auf Erkenntnis und Weitergabe des Guten.
Am Ende steht keine platte Moral, sondern eine zarte, offene Lehre: Das Licht des Kristalls lebt in den Herzen der Kinder fort, als stille Erinnerung an Mut und Vertrauen. Damit gelingt Groß ein klassisches Märchenmotiv in moderner Sprache – getragen von Sanftheit, Hoffnung und innerer Wahrheit.
✨ Fazit
"Das Geheimnis des Laufbachwasserfalls" ist ein leuchtendes Beispiel für zeitgenössische Märchenkunst: atmosphärisch dicht, sprachlich fein gearbeitet und seelisch berührend. Es verbindet regionale Verwurzelung mit universeller Bedeutung – und zeigt, dass Magie dort beginnt, wo Vertrauen größer ist als Angst.
⭐ Empfehlung: Für Kinder ab 7 Jahren und alle Erwachsenen, die das Staunen nicht verlernt haben.
🕯️ Bewertung: 5 von 5 Sternen – poetisch, liebevoll, bedeutungsvoll.
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