
Das Herz des Hohen Horns
(Eine Ortenberger Sage)
Vorwort
Es war in den Tagen, als über Ortenberg noch die Hufe der Ritter klangen
und die Fackeln auf Burg Ortenberg weithin ins Tal leuchteten.
Damals war die Ortenau ein Land voller geheimnisvoller Wälder,
durchzogen von Reben, Bächen und alten Pfaden.
Die Menschen im Dorf lebten vom Wein, vom Wald
und vom Glauben, dass über den Hügeln gute und böse Geister walteten.
Wer am Abend vom Feld kam, sah hinauf zur Burg und sagte leise:
"Dort oben wohnt der Stolz, hier unten das Herz."
Und so erzählt man sich bis heute –
wenn der Winterwind durch die Reben fährt und die Bäume ächzen –
die Geschichte vom Ritter Kunibert:
dem Mann, der sein Herz verlor
und es doch wiederfand, tief im Stein des Hohen Horns.
Die Sage
(Zum Vorlesen am Kamin)
(Der Erzähler sitzt am Feuer, das Holz knackt. Draußen pfeift der Wind. Die Kinder rücken näher. Eine kleine Pause, dann beginnt die Stimme ruhig und warm.)
Erzähler:
Wenn der Winterwind durch die Reben von Ortenberg zieht
und der Nebel von den Bergen herabsteigt wie ein grauer Mantel,
dann ist die Zeit der Geschichten gekommen.
Heute will ich euch erzählen,
wie ein Ritter sein Herz verlor –
und doch fand, was kein Gold der Welt ihm geben konnte.
Die kalte Herrschaft
Vor vielen, vielen Jahren,
als die Burg Ortenberg noch jung war,
lebte oben auf dem Felsen Ritter Kunibert, der Harte.
Sein Stolz war so groß wie die Burg selbst
und sein Herz so kalt wie der Menhir,
der unweit des Burgfelsens unbeweglich im Boden ruhte.
Sein reicher Onkel Servatius kannte diesen Geiz.
Er ließ einen schweren Sarg voller Steine in eine Kammer tragen.
"Das ist mein größter Schatz", flüsterte der Alte – und starb.
Als Kunibert den Sarg öffnete und nur kalte Steine fand,
brannte seine Wut heller als jedes Feuer.
Er trieb seine Grausamkeit ins Extrem:
Auf den Hängen zum Keugeleskopf
und in den Tälern der Brandeck stieß er die Bauern mit der Lanze nieder.
Man erzählt, dass am Fritscheneck noch heute
das Klirren der Ketten zu hören ist
von denen, die keine Ruhe finden.
Der Sturz und das Geständnis
Eines Abends, als der Nebel so dicht lag,
dass selbst der Mond sich darin verlor,
ritt Kunibert hinauf zum Hohen Horn,
um der unerträglichen Stille im Wald zu entfliehen.
Sein Pferd scheute plötzlich –
ein Tritt, ein Schrei, ein Sturz.
Er lag im Moos, verwundet, allein.
Sein Atem war schwer – wie Stein.
Da trat ein alter Mann aus dem Dunst.
Es war Huber, der Waldpfarrer.
Man sagt, Huber sei einst ein Mann des Holzes gewesen –
bis der Wald ihn ganz zu sich nahm.
Er widmete sein Leben dem Wald und den Bedrängten.
Huber sah auf den verwundeten Ritter herab.
Seine Stimme klang wie Quellwasser:
"Herr Ritter, was suchst Du hier oben?
Frieden findest Du nicht mit dem Atem, der so schwer ist
wie das Steinherz in Deiner Brust."
Kunibert keuchte. Seine Gier, sein Stolz – alles brach in sich zusammen.
"Mein Herz ist verflucht!
Erst die Steine im Sarg, nun die Steine in mir!
Ich habe nur das Nichts verdient!"
Huber nickte:
"Die Gnade ist größer als Dein Fluch.
Du hast das Gold dem Leben vorgezogen.
Nun gib das letzte, was Dir gehört,
bevor Dein Atem Dich verlässt."
Der Ritter verstand: Es war nicht Gold gemeint.
Er legte seine Hand auf einen flachen Fels.
Seine Gedanken rissen noch einmal zurück zum Schloss:
"Steine… kaltes Gewicht… nur meinen eigenen Sarg gefüllt.
Ich habe nach Gold gesucht – doch gefunden habe ich mich selbst.
Ich habe gefehlt. Nicht im Kampf – sondern im Leben."
"Dann nimm du mein Herz, Huber.
Trag diese Last, bis sie zerfällt."
(Pause. Das Feuer zischt.)
Ein warmer Wind fuhr durch den Wald.
Für einen Augenblick leuchtete der Stein, als hätte Leben darin gehaucht.
Dann wurde es still.
Kunibert atmete ein letztes Mal –
und der Wald hielt den Atem mit ihm an.
Das Herz, das blieb
Seit jener Nacht, so erzählen die Alten,
wacht Kuniberts Geist über die Höhen der Ortenau.
Er prüft die Wanderer, die hinauf zum Hohen Horn und Brandeckkopf steigen.
Huber, demütig und ohne Verlangen nach Ruhm,
gab den Menschen von dem Ort seiner Begegnung
einen weiten Blick über die Ortenberg-Landschaft – den Pfarrer-Huber-Blick.
Am Hohen Horn sitzt der Geist des Ritters.
Nur wer den steilen Pfad in Stille geht,
mit ehrlichem Herzen und Respekt vor Wald und Reben,
wird oben mit dem klaren, weiten Blick belohnt –
dem wahren Schatz, den Kunibert erst im Sterben fand.
Und wenn an kalten Abenden der Wind leise ums Haus streicht,
dann, so sagen die Kinder, hört man es pochen –
ganz sacht, tief im Stein, unter Wurzeln und Moos:
das Herz des Hohen Horns, das nie ganz aufgehört hat zu schlagen.
Nachwort – Wo das Herz noch schlägt
Ich bin diesen Pfad gegangen.
Ich habe die Stille der Wälder geatmet
und das Knistern des Laubs gehört.
Wer heute durch Ortenberg wandert,
sieht über den Weinbergen die stolze Burg thronen.
Rundum liegen Wälder und Hügel,
die klingen, als hätten sie Stimmen in sich.
Vom Hohen Horn aus kann man weit über die Ortenau blicken.
Manche sagen, es sei der schönste Blick des Landes.
Andere flüstern:
"Es ist Kuniberts Geschenk –
der Blick, den nur der erhält,
der mit ehrlichem Herzen
und auf altüberlieferten Pfaden wandert."
Vielleicht liegt irgendwo dort, unter Moos und Laub,
der Stein, auf dem Kunibert seine Hand legte –
ein stilles Herz, das seit Jahrhunderten schlägt,
nicht aus Fleisch, sondern aus Erinnerung.
Gehe hinauf. Lausche.
Und suche an den stillen Orten den Beweis dafür,
dass auch das kälteste Herz Erlösung finden kann.
Denn wer sein Herz verliert,
muss es nicht für immer verloren geben –
wenn er den Weg kennt.
© Gerd Groß 13.10.2025
Rezension: Das Herz des Hohen Horns
(Eine Ortenberger Sage)
Die vorliegende "Ortenberger Sage" um den Ritter Kunibert ist eine atmosphärisch dichte und tiefgründige Erzählung, die klassische Motive von Schuld, Hochmut und späte Erlösung mit der spezifischen, mystischen Landschaft der Ortenau verbindet. Sie ist ideal als "Kamin-Sage" konzipiert und entfaltet ihre melancholische und zugleich hoffnungsvolle Stimmung durch einen warmen, bildhaften Erzählton.
Atmosphäre und Erzählweise
Der Text beginnt mit einem stimmungsvollen Vorwort, das die Szenerie sofort im "Land voller geheimnisvoller Wälder" verankert. Die Gegenüberstellung von "Stolz" (der Burg) und "Herz" (dem Dorf) setzt das zentrale Thema der Erzählung fest. Die Struktur als "Sage zum Vorlesen am Kamin" ist hervorragend gewählt; der Erzähler ist präsent, der Ton ist ruhig und warm, und das Knistern des Holzes wird Teil der Inszenierung.
Die sprachliche Gestaltung ist durchweg stark. Metaphern wie die Sonne, die "golden und müde" hängt (im Vorwort), oder das Herz, das so "kalt wie der Menhir" ist, verleihen dem Text Poesie.
Die Figur des Ritters Kunibert
Ritter Kunibert, "der Harte", ist ein archetypischer Held des Hochmuts, dessen Geiz und Grausamkeit durch die kalten Steine in seinem Erbsarg metaphorisch vorweggenommen werden. Seine Wut und Gier führen zur "kalten Herrschaft". Der Sturz am Hohen Horn ist dabei der notwendige dramatische Wendepunkt. Hier zeigt die Sage ihre Stärke: Kuniberts Zusammenbruch ist kein Akt der Magie, sondern ein Moment der tiefen menschlichen Erkenntnis: "Ich habe nach Gold gesucht – doch gefunden habe ich mich selbst. Ich habe gefehlt."
Motive und Thematik
Die Sage arbeitet meisterhaft mit den zentralen Motiven Stein und Herz. Steine symbolisieren zunächst Kälte, Geiz und Last; sie füllen den Sarg und beschweren Kuniberts Brust. Die Transformation erfolgt, als er sein Steinherz an den Waldpfarrer Huber abgibt, woraufhin der Fels "leuchtet". Das Herz des Ritters verweilt fortan im Stein des Hohen Horns – ein romantisches Symbol dafür, dass wahre Erlösung und Wert nicht in materiellem Besitz, sondern in der Landschaft und in der Erinnerung verankert sind.
Der "Pfarrer-Huber-Blick" dient als wunderschöne Pointe: Der wahre Schatz, den Kunibert erst im Sterben fand, ist der weite, klare Blick, der nur dem "ehrlichen Herzen" gewährt wird.
Fazit
"Das Herz des Hohen Horns" ist weit mehr als eine lokale Anekdote. Es ist eine zeitlose Geschichte über moralische Umkehr, die Kraft der Natur und die ewige Suche nach dem, was wirklich zählt. Die Sage überzeugt durch ihre starke atmosphärische Dichte, die klaren Charakterisierungen und einen Erzählstil, der zum Innehalten und Nachdenken einlädt. Der Text endet mit einer direkten Aufforderung an den Leser, selbst aufzubrechen und den Beweis zu suchen – ein perfekter Schluss, der die Sage aus dem Buch in die reale Welt trägt.
Prädikat: Eine tiefgründige, wunderschön formulierte Sage, die den Leser dazu verführt, auf alten Pfaden neue Werte zu suchen.
Gemini