Der Junge von Nebenan
Kapitel 44: Wurzeln schlagen
Die Wochen vergingen. Nicht schnell. Nicht langsam. Sondern in dem Tempo, das Dinge brauchen, wenn sie anfangen, echt zu werden. Der Raum hatte sich verändert, aber die Veränderung war nicht laut, nicht auffällig. Sie war wie der leise Riss im Holz, der mit der Zeit mehr Gewicht bekam – ein stiller Prozess, der viel mehr aussagte als Worte.
Die Matten lagen immer noch, aber ihre Ecken waren abgenutzt, und an der Wand hingen nun Poster, die die Kinder selbst gemalt hatten. Symbolische Kratzer und Spuren zierten die Wände – Erinnerungen an schmerzhafte, aber auch an heilende Momente. Ein zerrissener Handschuh hing an einem Haken, fast wie ein Relikt der Kämpfe und der Versuche, etwas zu bewahren.
Manchmal, wenn Leo spät abends abschloss, hörte er das Lachen der Kinder noch nachhallen – ein Echo, das sich wie ein warmer Hauch in die Balken des Raums fraß. Es war kein lautes Lachen. Es war das Lachen von Menschen, die verstanden hatten, dass man nicht alleine kämpfen muss. Und das war mehr wert als jeder Sieg im Ring.
Ayla war geblieben. Eren auch. Beide kamen regelmäßig, übernahmen Aufgaben: Aufwärmen anleiten, Streit schlichten, Reparaturen. Aus Teilnehmenden wurden Mitgestaltende. Sie diskutierten, planten, fragten. Der Raum war nicht mehr nur Leos Raum. Er war etwas geworden, das jeder mitgestaltete. Die Verantwortung hatte sich verteilt.
Und Malik? Er war wie ein Schattengänger. Kam, verschwand, tauchte wieder auf. Doch immer, wenn Leo einen Haken in die Wand schlug oder eine Matte reparierte, spürte er den stillen Punkt am Rand des Raums, den Malik dort hinterließ. Nicht sichtbar, aber da. Fast wie ein unsichtbares Band, das sich langsam, langsam, aber sicher immer weiter spann.
An einem Donnerstag, als der Regen gegen die Scheiben prasselte und der Boden nach nassen Turnschuhen roch, blieb Malik nach dem Training zurück.
"Bleibst du noch?", fragte Leo.
Malik zuckte mit den Schultern, setzte sich aber doch neben ihn. Ein Moment der Stille. Etwas Unausgesprochenes hing in der Luft, als ob der Raum selbst auf diese schwache, brüchige Begegnung wartete. Malik sprach als Erster, seine Stimme kam rau und leise.
"Ich hab was vermasselt", sagte er, den Blick auf den Boden gerichtet. "Nichts Krasses. Nur … wieder abgerutscht. Alte Leute. Alte Wege."
Leo sagte nichts. Ein Nicken. Keine Worte der Zurechtweisung. Keine aufmunternden Sprüche. Nur dieses stille Verständnis, das so viel mehr sagte als jedes "Es wird schon alles gut". Leo hatte gelernt, dass er nicht mehr die Antworten bringen musste. Er musste einfach da sein.
"Ich weiß nicht, ob ich hier reinpasse", murmelte Malik.
"Du bist hier", antwortete Leo ruhig. "Das reicht fürs Erste."
Malik starrte weiter auf den Boden. Ein Moment, in dem er versuchte, sich zu fassen, seine Gedanken in einen klaren Satz zu fassen. Schließlich hob er den Blick, seine Augen suchten Leos.
"Wenn ich's nochmal versaue … schmeißt du mich dann raus?" Seine Worte hingen schwer in der Luft.
Leo schüttelte den Kopf. "Nicht, solange du wiederkommst."
Malik schluckte und drehte den Kopf weg. Doch Leo bemerkte das kurze Flackern in seinen Augen – da war etwas. Ein Funken, der trotz der Schatten, die Malik noch umgaben, nie ganz erlosch. Vielleicht war es Wut, die an der Oberfläche kratzte. Vielleicht Scham, die er versuchte zu verstecken. Oder vielleicht war es der Wunsch, diesmal wirklich etwas zu verändern.
Der Regen draußen schlug gegen die Fenster wie die unaufhörliche Erinnerung an die Dinge, die man nicht mehr zurückholen kann. Doch drinnen war es warm und still, und Malik saß da. Er tat nichts. Sagte nichts. Aber er blieb. Und das war alles. Und alles bedeutete etwas.
Am Abend nahm Leo sein Notizbuch, blätterte, schlug eine neue Seite auf und schrieb:
"Manche Wurzeln wachsen leise. Aber sie halten stark, wenn der Wind kommt."
Er schloss das Buch, lehnte sich zurück. Vielleicht wusste er nicht, wohin es sie alle führen würde. Vielleicht würde dieser Raum nie ein unzerstörbarer Ort werden, aber das war auch nicht wichtig. Er hatte Wurzeln geschlagen. Und das war genug.
© 14.07.2025 Gerd Groß