Der Junge von Nebenan

Kapitel 43: Der Kreis


Die Sonne fiel schräg durchs Fenster, tauchte den Raum in ein weiches, goldfarbenes Licht. Zehn Kinder saßen im Kreis auf den Matten. Es war ein ruhiger Moment, der fast wie ein Pause inmitten des Chaos wirkte. Ayla und Eren saßen links von Leo, Malik gegenüber. Der Raum war nicht mehr nur ein Ort zum Trainieren, sondern ein Ort der Begegnung geworden. Heute gab es kein Training. Nur ein Gespräch.

Tarik saß neben Malik, die Schultern leicht nach vorn gezogen, die Augen wie immer wachsam, aber nicht mehr so schnell reagierend wie sonst. Er war erst zwölf, schmal gebaut, mit einem schnell zuckenden Auge, das immer wieder den Raum durchmaß. Eine aufgeschlagene Lippe verriet, dass er gerade erst in einen Streit verwickelt war. Aber heute sprach er nicht viel. Wenn er sprach, dann mit einer Wucht, die nichts beschönigte.

Es ging um Wut. Um Mut. Um Angst. Und jeder hatte etwas beizutragen, ob er es wollte oder nicht. In einer Ecke des Raumes hing ein weiteres Poster: "Wut ist nicht der Feind. Die Frage ist: Wie gehst du mit ihr um?" Ein Zitat, das die Kinder in diesem Raum leise nachdenklich machte.

Plötzlich unterbrach Tarik die Stille mit einer leisen, aber festen Stimme:

"Ich hab Angst, dass ich wieder Mist bau", sagte er. Seine Stimme klang nicht wie das übliche Geplänkel, sondern drückte eine Ernsthaftigkeit aus, die sie alle an den Rand der Spannung führte.

Ayla, deren Lachen sonst den Raum füllte, legte den Kopf schief und antwortete mit einem unüberlegten, aber ehrlichen Lächeln:

"Dann bau ihn mit uns. Ist besser als allein."

Malik grinste schief, und ein Funkeln in seinen Augen blitzte auf, das mehr sagte als alle Worte:

"Du klingst wie ein Coach."

Die Scherze des Moments flogen durch den Raum, aber Leo bemerkte, wie er selbst mit den Worten von Tarik kämpfte. Diese Angst, nicht genug zu sein oder wieder zu scheitern, war real. Und nicht nur für Tarik.

Leo war still, hörte zu, während sich der Kreis unsichtbar schloss. Er dachte an die vielen Male, als er dachte, er würde alles verlieren. Die Zweifel, die er ständig gegen sich selbst führte. Aber hier, in diesem Moment, war er nicht allein.

"Du hast recht", begann Leo, nachdem er lange nach den richtigen Worten gesucht hatte. Er wollte nicht predigen, wollte nicht die Weisheit des "Erwachsenen" in einem Raum voller Kinder sein. Aber er wusste, was er sagen musste. "Wenn du es allein versuchst, wirst du immer wieder fallen. Aber wenn du dich mit uns verbindest, dann fällst du nicht allein. Dann fallen wir zusammen und helfen uns wieder aufzustehen."

Malik, der still zugehört hatte, nickte langsam. Es war das erste Mal, dass er nicht von der Schuld erdrückt wirkte. In seinen Augen lag ein Leuchten, das Vertrauen ausstrahlte, auch wenn er noch so viel mit sich selbst zu kämpfen hatte.

"Das ist es, was ich an dir schätze, Leo", sagte Malik leise, "du willst nicht retten. Du willst, dass wir alle uns gegenseitig retten."

"Es geht nicht darum, Retter zu finden", antwortete Leo. "Es geht darum, zu lernen, zusammen zu bleiben – auch wenn es hart wird."

Seine Worte klangen wie eine Bestätigung dessen, was sie alle suchten: Ein Zuhause, das mehr als nur vier Wände war. Ein Zuhause, das durch den Zusammenhalt derer, die bereit waren zu bleiben, stark wurde.

Tarik saß mit gesenktem Kopf und starrte auf seine Hände. "Ich hab Angst, dass ich wieder scheitere. Aber … ich will das nicht mehr." Der Schmerz in seiner Stimme war nicht mehr zu überhören. Er war kein unerschütterlicher Krieger. Er war ein Junge, der versuchte, sich selbst zu verstehen.

Ayla legte ihre Hand auf seine Schulter, sanft, aber bestimmt: "Keiner hier erwartet, dass du perfekt bist, Tarik. Aber du bist hier, und du gehörst dazu. Der Rest wird schon."

In diesem Moment spürte jeder, dass der Kreis nicht nur eine symbolische Handlung war. Es war ein Weg der Akzeptanz und des Wachsens, ein Test des Vertrauens. Ein Raum, in dem keiner den anderen aufgab, auch nicht in den schwierigsten Momenten.

Am Ende des Treffens standen die Kinder langsam auf, die Gespräche waren ruhig, fast nachdenklich. Einige sprachen weiter miteinander, andere gingen in ihr eigenes Nachdenken.

Der Raum war nicht mehr wie zu Beginn – leer und düster. Jetzt waren die Wände mit selbstgemalten Postern bedeckt, die hoffnungsvolle Sätze trugen, aus den Erlebnissen der Kinder geformt. Einer der Zettel war größer als die anderen, und als Leo ihn betrachtete, las er:

"Ein Raum wird nicht durch Wände stark, sondern durch die Leute, die drinnen bleiben, wenn's kracht."

Leo setzte sich wieder ans Fenster, der Blick ging nach draußen, in die Dämmerung. Ein tiefer Atemzug. Das alte Notizbuch lag noch immer in seinem Schoß. Er las die Worte, die er kürzlich geschrieben hatte:

"Es geht nicht um Retter. Es geht um Kreise. Und wer drin bleibt, wenn sie sich schließen."

Es war mehr als ein Zitat. Es war die Essenz dessen, was dieser Raum, dieser Kreis bedeutete. Und was er noch werden würde.


© 14.07.2025 Gerd Groß

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