Der Junge von Nebenan

Kapitel 42: Malik


Zwei Tage später.

Leo saß wieder auf dem Boden. Der Raum war still, fast zu still. Die Matten waren geflickt, doch der Geruch des Feuers hing noch immer in der Luft, als hätte er sich in den Wänden und im Boden eingenistet. Ein erdrückender Duft, der die frische Hoffnung erstickte. Die Asche war noch nicht ganz verflogen.

Plötzlich öffnete sich die Tür.

Nicht hastig. Nicht zaghaft. Einfach – offen.

Malik trat ein.

Die abgetragene Jacke hing wieder an seinen Schultern. Die Haltung – immer noch dieselbe. Doch etwas war anders. Etwas in seinen Augen hatte sich verändert: wacher, müder, und doch auch – ehrlicher.

Leo spürte, wie sich ein Knoten in seiner Brust bildete, als sich ihre Blicke trafen. Es war ein Moment, in dem alles langsam wurde. Malik wirkte so zerbrechlich, als würde jeder Schritt, den er tat, die Erde ein Stück mehr unter seinen Füßen aufbrechen. Und doch war da dieser Blick – ein Blick, der von all den Fehlern sprach, die er gemacht hatte, von all den Nächten, in denen er sich fragte, ob es für ihn noch einen Weg zurück gab.

"Schöner Laden", sagte Malik. Die Worte fielen so trocken, als ob er sie selbst nicht glaubte. Die Stimme brach ein Stück.

"War mal schöner", antwortete Leo leise, fast wie ein Echo aus der Vergangenheit.

Malik ließ seinen Blick über den Raum schweifen. Die Matten. Die Wände. Und dann, das Schild auf der Bank: "Du bist nicht allein." Er hielt inne, seine Finger zitterten, als er das Schild berührte und es dann vorsichtig zurücklegte.

"Du meinst das wirklich, oder?" fragte er. Die Worte kamen kaum mehr als ein Flüstern, getragen von einer Unsicherheit, die Leo tief traf.

Leo nickte, sein Blick blieb fest auf Malik gerichtet. Nicht die Person vor ihm war wichtig, sondern das, was sie einmal zusammen hatten. Er wusste, dass es hier nicht nur um den Raum ging. Es ging um etwas anderes. Etwas, das sie durch all das hindurch miteinander verbunden hatte.

Ein tiefer Atemzug. Malik kämpfte mit sich selbst. Er hatte so lange nicht mehr wirklich gesprochen, sich hinter einer Mauer aus Witzen und Ausreden versteckt. Doch jetzt war diese Mauer zerbröckelt, der Schutt lag zu seinen Füßen. Er wollte ehrlich sein. Vielleicht zum ersten Mal.

"Ich hab' Scheiße gebaut, Leo. Mehr, als ich dir sagen kann. Leute verloren… Freunde. Familie. Und ich dachte, ich kann das alles alleine durchstehen."

Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr. Die Worte klangen wie das Zerbrechen von etwas, das lange unter der Oberfläche gewartet hatte, um hervorzubrechen. "Ich hab' mich selbst verloren. Und ich hab' Angst, dass ich nie wieder find', wer ich wirklich bin."

Leo konnte den Schmerz in Maliks Worten hören. Es war nicht nur Schuld – es war der tiefe, nagende Zweifel an sich selbst. Der Zweifel, der einen zu Boden zieht und einem die Luft nimmt.

Die Stille zwischen ihnen wog schwer. Keiner von beiden wusste, was als Nächstes kommen würde. Vielleicht war es eine Last, die sich in diesem Moment auf sie beide legte, doch sie wussten, dass sie sich nicht voneinander abwenden konnten. Es gab keinen Weg zurück.

Dann, mit rauer Stimme, brach Malik das Schweigen: "Dann mach ich mit. Aber ich sag' dir gleich – ich bring' keine Engel mit. Nur das, was ich noch hab. Kaputt und echt."

Leo trat einen Schritt näher. Der Raum zwischen ihnen war immer noch da, doch in diesem Moment schien es ihm nicht mehr so wichtig. Er legte die Hand auf Maliks Schulter.

"Ich such' keine Engel", sagte er ruhig. "Ich such' Leute, die bleiben. Auch wenn sie fallen. Auch wenn sie kämpfen müssen. Zusammen."

Malik nickte langsam. Die Fassade war endgültig gebrochen. Für einen Moment blitzten Tränen in seinen Augen auf – nicht vor Schwäche, sondern vor einer Erleichterung, die er sich selbst nicht zugestanden hatte. In diesem Augenblick schien die Last ein kleines Stück leichter zu werden.

Die Hoffnung, die er so lange verdrängt hatte, begann sich zu regen. Ein leises Flüstern in der Dunkelheit sagte ihm: Vielleicht ist noch nicht alles verloren.

Und in diesem Raum, der so oft leer gewesen war, begann etwas zu atmen. Etwas, das nicht mehr nur von den Matten und den Wänden abhängte. Etwas, das von der Entscheidung lebte, zu bleiben und zu kämpfen.


© 14.07.2025 Gerd Groß

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