Der Junge von Nebenan
Kapitel 40: Spuren im Staub
Der Raum roch nach Gummi und Schweiß, doch unter all dem lag noch etwas anderes – die Stille einer Veränderung, die nicht ausgesprochen wurde. Leo stand vor dem Spiegel. Nicht, um sich selbst zu sehen, sondern, um zu erkennen, was er hinter sich nicht sah.
Ayla gab einem Neuen Anweisungen, wie man die Faust dreht. Eren half Tarik, die richtige Fußstellung zu finden. Doch in der Luft hing noch etwas anderes. Eine Spannung, die niemand ansprache.
Und die Tür war offen. Wie immer. Doch es kamen nicht nur die, die lernen wollten.
Zuerst waren es die Kleinigkeiten: eine zerbrochene Lampe, die in der Ecke lag. Müll in der Umkleide. Eine verschwundene Flasche Wasser – nichts Weltbewegendes. Aber irgendetwas in diesen Kleinigkeiten hatte sich verändert. Etwas, das Leo nicht genau greifen konnte.
Es war erst der Morgen, an dem er die Matten fand – zwei von ihnen, aufgeschlitzt und völlig zerstört. Sie lagen da, als wollten sie ihm etwas sagen. Aber was? Warum nur diese zwei? Hatten sie zufällig die falsche Stelle getroffen? Oder war es Absicht?
Leo kniete sich nieder, seine Hand fuhr über die Ränder der Schnittkanten. Präzise, nicht zufällig. Kein blinder Vandalismus. Es war Absicht. Und das sagte mehr, als jedes Wort es könnte.
"Was ist hier los?" flüsterte er zu sich selbst, doch die Antwort war wie der Staub auf dem Boden – unerreichbar.
Später kam David vorbei. Er sah die zerstörten Matten und sagte nur, ohne aufzusehen: "Wenn du etwas aufbaust, trittst du jemandem auf die Füße. Immer."
Leo nickte. Kein Widerspruch. Er wusste, dass David recht hatte. Aber irgendwie fühlte es sich anders an. Etwas war nicht in Ordnung. Es war nicht das erste Mal. Und es würde nicht das letzte Mal sein.
Am Abend saß Leo alleine in der Halle. Der Geruch von Desinfektionsmittel und den verschwitzten Matten hing in der Luft. Er konnte die Stille nicht mehr ertragen.
"Nicht jeder Schatten will weichen", schrieb er in sein Notizbuch. "Manchmal muss man trotzdem Licht lassen."
Doch als er die Worte auf dem Papier betrachtete, fühlte er sich nicht wie der, der das Licht brachte. Er fühlte sich wie ein Beobachter. Etwas Dunkles, Unausgesprochenes lauerte in der Halle. Und Leo fragte sich: Hat es jemals einen Moment gegeben, an dem ich wirklich alles unter Kontrolle hatte?
Ein Lächeln auf der Wand erinnerte ihn an die Botschaft, die er dort geschrieben hatte. "Leo war hier". Halb Witz, halb Respekt. Doch dieses Lächeln fühlte sich plötzlich nicht mehr wie ein Zeichen des Erfolgs, sondern wie ein Schatten, der langsam die Lichtquellen um ihn herum zu ersticken begann.
Und wer war der Schatten?
© 14.07.2025 Gerd Groß