Der Junge von Nebenan
Kapitel 39: Zeichen
Der Herbst kam schnell. Blätter wirbelten durch den Hof, als wären sie sich nicht sicher, wohin sie wollten. Leo stand in der offenen Tür des Raumes und sah Ayla beim Üben zu. Sie zählte laut – überdeckte damit ihre Unsicherheit. Eren korrigierte sie – ohne Worte, nur mit einer Bewegung der Hand.
Leo lächelte. Er hatte nichts davon geplant. Und doch entstand etwas. Ein kleiner Kreis. Eine Linie im Staub.
Dann kam etwas Neues.
Ein Brief.
Keine Nachricht. Kein Anruf. Ein echter Brief, abgegeben von einem kleinen Jungen, der sofort wieder weglief. Leo öffnete ihn vorsichtig. Das Papier war zerknittert. Die Handschrift kantig. Die Worte, die darauf standen, trafen ihn in dem Moment, als er sie las.
"Du baust etwas auf. Ich sehe das. Aber nicht jeder will gebaut werden.
Nicht jeder ist bereit, sich zu verändern – vor allem nicht die, die es am meisten brauchen.
Vielleicht brauchst du noch mehr Geduld. Vielleicht auch nicht.
Ich bin da. Nur nicht sichtbar. Noch nicht.
Ich habe verstanden, was du tust. Und irgendwann, vielleicht, werde ich sehen, wie du es machst.
Aber noch nicht heute. Und vielleicht auch nicht morgen.
– M."
Leo hielt den Brief in der Hand und sah auf die zerknitterte Schrift. Für einen Moment war es, als stünde die Zeit still. Es war nicht der erste Brief, den er bekommen hatte, aber derjenige, der am meisten zu sagen hatte. Und doch… etwas war anders.
Die Worte hatten eine Schwere, die ihm schwer im Magen lag. "Nicht jeder will gebaut werden." – Er wusste, was das bedeutete. Er hatte es selbst erlebt, wie man für Veränderung kämpft und dann merkt, dass der andere noch nicht bereit ist, den ersten Schritt zu machen. Und Malik… Malik war derjenige, der vielleicht noch nicht an den Punkt war, sich bauen zu lassen. Aber Leo hatte jetzt eine andere Frage: War er bereit, darauf zu warten?
Seine Gedanken schweiften zurück zu den Momenten, die er mit Malik geteilt hatte, zu den Zeiten, als er noch versuchte, ihn zu erreichen. Damals hatte es immer das Gefühl einer Ferne zwischen ihnen gegeben. Leo wusste, dass er das nicht ändern konnte, aber es stimmte ihn nicht traurig. Im Gegenteil, es bestärkte ihn. Der Brief zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war – dass er gesehen wurde. Nicht von allen, aber von Malik.
"Vielleicht reicht es nicht, etwas zu verändern. Vielleicht muss man auch warten, bis andere bereit sind, es zu sehen."
Diese Gedanken hielten ihn lange fest. Der Brief war kein Triumph – eher ein leises Versprechen. Malik war da. Und irgendwann würde er sehen, was Leo tat. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Aber es war genug für Leo, um weiterzumachen. Es war nicht der Moment der Bestätigung, sondern der Moment des Verstehens. Manchmal war es nicht genug, nur zu bauen – manchmal musste man auch Geduld haben, damit das, was man geschaffen hatte, wirklich sichtbar wird.
Er steckte den Brief in das alte Notizbuch, zwischen die Seiten von Herrn Weber. Dort, wo Erinnerungen und Zukunft sich berührten. Der Brief war kein endgültiges Ende, sondern ein Moment, der Leo daran erinnerte, warum er überhaupt begonnen hatte. Es war ein Lebenszeichen von jemandem, der noch nicht bereit war, sich vollständig zu öffnen – aber der langsam, sehr langsam, in die Richtung ging, in die auch Leo gegangen war.
Am Abend blieb das Licht im Raum länger an. Die Kinder waren gegangen, doch Leo saß noch da. Allein. Nicht einsam. Irgendwo da draußen war Malik. Und er hatte gesehen, was Leo tat.
"Vielleicht reicht es nicht, etwas zu verändern. Vielleicht muss man auch warten, bis andere bereit sind, es zu sehen."
Er schloss das Notizbuch und legte es beiseite. Es war still in der Halle. Doch in Leos Herzen brannte ein leises, aber beständiges Feuer. Der Weg war noch nicht zu Ende. Aber vielleicht – nur vielleicht – war der erste Schritt, der schwerste.
Der Raum roch nach Gummi und Schweiß, doch unter all dem lag noch etwas anderes – die Stille einer Veränderung, die nicht ausgesprochen wurde. Leo stand vor dem Spiegel. Nicht, um sich selbst zu sehen, sondern, um zu erkennen, was er hinter sich nicht sah.
Ayla gab einem Neuen Anweisungen, wie man die Faust dreht. Eren half Tarik, die richtige Fußstellung zu finden. Doch in der Luft hing noch etwas anderes. Eine Spannung, die niemand ansprache.
Und die Tür war offen. Wie immer. Doch es kamen nicht nur die, die lernen wollten.
Zuerst waren es die Kleinigkeiten: eine zerbrochene Lampe, die in der Ecke lag. Müll in der Umkleide. Eine verschwundene Flasche Wasser – nichts Weltbewegendes. Aber irgendetwas in diesen Kleinigkeiten hatte sich verändert. Etwas, das Leo nicht genau greifen konnte.
Es war erst der Morgen, an dem er die Matten fand – zwei von ihnen, aufgeschlitzt und völlig zerstört. Sie lagen da, als wollten sie ihm etwas sagen. Aber was? Warum nur diese zwei? Hatten sie zufällig die falsche Stelle getroffen? Oder war es Absicht?
Leo kniete sich nieder, seine Hand fuhr über die Ränder der Schnittkanten. Präzise, nicht zufällig. Kein blinder Vandalismus. Es war Absicht. Und das sagte mehr, als jedes Wort es könnte.
"Was ist hier los?" flüsterte er zu sich selbst, doch die Antwort war wie der Staub auf dem Boden – unerreichbar.
Später kam David vorbei. Er sah die zerstörten Matten und sagte nur, ohne aufzusehen: "Wenn du etwas aufbaust, trittst du jemandem auf die Füße. Immer."
Leo nickte. Kein Widerspruch. Er wusste, dass David recht hatte. Aber irgendwie fühlte es sich anders an. Etwas war nicht in Ordnung. Es war nicht das erste Mal. Und es würde nicht das letzte Mal sein.
Am Abend saß Leo alleine in der Halle. Der Geruch von Desinfektionsmittel und den verschwitzten Matten hing in der Luft. Er konnte die Stille nicht mehr ertragen.
"Nicht jeder Schatten will weichen", schrieb er in sein Notizbuch. "Manchmal muss man trotzdem Licht lassen."
Doch als er die Worte auf dem Papier betrachtete, fühlte er sich nicht wie der, der das Licht brachte. Er fühlte sich wie ein Beobachter. Etwas Dunkles, Unausgesprochenes lauerte in der Halle. Und Leo fragte sich: Hat es jemals einen Moment gegeben, an dem ich wirklich alles unter Kontrolle hatte?
Ein Lächeln auf der Wand erinnerte ihn an die Botschaft, die er dort geschrieben hatte. "Leo war hier". Halb Witz, halb Respekt. Doch dieses Lächeln fühlte sich plötzlich nicht mehr wie ein Zeichen des Erfolgs, sondern wie ein Schatten, der langsam die Lichtquellen um ihn herum zu ersticken begann.
Und wer war der Schatten?
© 14.07.2025 Gerd Groß