Die Yburg – Eine Mär von Verzweiflung, Verführung und Erlösung
Eine Sage nach: Alois Wilhelm Schreiber
Teil 1: Der Verfall und der Fremde
Zwei Stunden von der alten Stadt Baden entfernt, dort, wo die sanften Hügel sich zur weiten Rheinebene neigen, erhebt sich auf einem einsamen Bergkegel die Yburg. Ihre grauen Türme ragen wie versteinerte Gebete gen Himmel, doch der Zahn der Zeit hat tiefe Furchen in ihr steinernes Antlitz gegraben. Einer der Türme, vom Blitz gespalten, steht da wie ein verfluchter Zeigefinger – mahnend und beklagt von den Winden, die unablässig durch die leeren Fensterhöhlen jagen.
Die Mauern, einst Bollwerk gegen Feinde, sind gefallen; nur ein letzter, bröckelnder Torbogen kündet von der vergangenen Pracht. Man sagt, in stürmischen Nächten höre man zwischen den Steinen ein Wimmern – als winde sich der Stein selbst vor gramvoller Erinnerung.
Längst ist das Geschlecht, das diese Mauern bewohnte, vergangen, wie ein verwelktes Blatt im Herbstwind. Nur der letzte Spross – ein Ritter, dessen Name aus den Chroniken gelöscht wurde – ist geblieben. Er lebte, wie es hieß, mit der Unbändigkeit des Donners, verschlang die Jahre im Rausch von Jagd, Spiel und eitler Pracht. Doch das Glück wich von ihm, leiser noch als der Schatten eines fallenden Blattes.
Sein Vermögen zerrann ihm zwischen den Fingern, ein Pfand nach dem anderen fiel in fremde Hände. Schließlich sah er sich gezwungen, mit bloßem Schwert und ohne Ehre als Raubritter durch die Lande zu ziehen – nicht aus Mut, sondern aus Not. Doch selbst dieser Pfad schloss sich ihm, als er in einem Gefecht gegen einen Handelszug seinen rechten Arm verlor. Von da an wich auch der letzte Knecht – wie Schatten, die das Licht meiden.
So saß er nun allein auf seiner verfallenden Burg, mit kaltem Stein als einziger Gesellschaft. Die Wände, früher voll Lärm und Lied, schwiegen dumpf, und nur der Wind sprach mit ihm – in einer Sprache aus Heulen, Pfeifen und fernem Donnern.
Nacht für Nacht brütete er über finsteren Gedanken. Hunger und Gram schürten Träume von Gold, alten Schätzen, verborgenen Gewölben – Gerüchte, die seine Ahnen einst in trunkenen Nächten gemurmelt hatten. Je leerer sein Magen, desto glühender wurden seine Vorstellungen. Und mit jeder Stunde wuchs der Schatten in seinem Herzen.
Da geschah es, in einer jener Nächte, als der Himmel von dichten Wolken verschluckt war und der Wind so heftig an den Zinnen rüttelte, dass die Burg zu ächzen schien, dass ein Klopfen an seiner morschen Pforte ertönte. Kein lautes Pochen – nur ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, wie von einer knöchernen Hand.
Der Ritter, jäh aus seinen Träumen gerissen, griff nach dem Dolch, den er stets unter dem Mantel trug, und näherte sich mit angehaltenem Atem der Tür. Als er sie öffnete, stand dort ein Mann in Pilgerkleidern – doch etwas an ihm war... unstimmig. Sein Gewand war zu makellos, das Metall seines Rosenkranzes zu neu, seine Haut zu bleich. Und um ihn war eine Kälte, wie sie nicht von Wind oder Wetter kommen konnte.
Der Fremde sprach mit einer Stimme, sanft und doch durchdringend, wie eine Melodie aus alter Zeit:
"Ich komme, um euch von eurer Not zu erlösen. Mein Weg führte mich durch Träume und Schatten – und nun auch zu Euch."
Der Ritter blinzelte, verwirrt und gleichzeitig wie gebannt. Etwas an diesem Mann zog ihn an wie das Flackern einer Flamme den Nachtfalter – schön, tödlich. Er ließ ihn ein, gegen seinen eigenen Instinkt.
Teil 2: Der Pakt
Am flackernden Feuer, das kaum Wärme gab, saßen der Ritter und der Fremde sich gegenüber. Der Pilger ließ den Wein unangetastet. Stattdessen sprach er von Dingen, die der Ritter längst zu vergessen glaubte – von alten Liedern, Familiennamen, den unterirdischen Gängen unter der Burg. Und dann, mit einer Stimme, so süß wie Gift, fragte er:
"Sagt, edler Herr, was wäre, wenn ich Euch zu Reichtum führen könnte? Zu jenem Schatz, den Euer Urgroßvater einst in großer Not verbarg, als Feinde diese Mauern belagerten?"
Der Ritter zuckte zusammen. In seinem Blick blitzte Hoffnung auf – und zugleich Misstrauen.
"Woher wisst Ihr von diesem Schatz?" Seine Stimme klang heiser, wie rostiges Eisen.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Fremden – ein Lächeln ohne Freude. "Ich war dabei, als Euer Ahn, der Isegrimm genannt wurde, sein Gold unter Stein und Gebein verbarg. Ich war dort, als er mit blutenden Händen die Truhen verschloss."
Der Ritter sprang auf. "Unmöglich! Isegrimm starb vor hundert Jahren!"
Der Pilger erhob sich nun langsam, fast feierlich. "Fragt nicht nach Dingen, die jenseits eures Begreifens liegen. Hört lieber: Heute ist Walpurgisnacht. Wenn die Glocke Mitternacht schlägt, steigt hinab in die Kapellengruft. Öffnet die Särge eurer Ahnen, tragt ihre Gebeine hinaus in das Mondlicht. Wenn sie draußen liegen, werdet ihr ungehindert zu dem Schatz gelangen, der unter dem letzten Sarg ruht. Danach legt die Knochen wieder zur Ruhe – und niemand wird je davon erfahren."
Der Wind fuhr auf wie ein plötzliches Aufschreien. Die Flammen zuckten. Der Ritter schwieg, das Herz ein Schlachtfeld zwischen Furcht und Verlockung. Ein Gedanke, erst flüchtig, wurde langsam zu einer Gewissheit: Wenn dies sein letzter Ausweg war – dann sollte es so sein.
Teil 3: Die Kapellennacht
Die Stunden krochen dahin wie schwarze Schlangen. Kein Laut war zu hören außer dem Tropfen von Wasser aus einem undichten Dachbalken – ein gleichmäßiges Ticken, als messe es die letzten Atemzüge des Gewissens.
Endlich schlug es zwölf. Mit zitternden Händen nahm der Ritter eine eiserne Laterne und schritt hinab in die Kapelle. Der Pilger folgte ihm bis zur Tür, doch verweigerte den Eintritt. Seine Stimme klang nun rauer, als er sagte:
"Dort endet mein Weg. Geh du allein."
Der Ritter betrat die Kapelle. Die Luft war feucht und bitter, durchtränkt von Moder und altem Weihrauch. Im bleichen Schein des Mondes, der durch ein zerbrochenes Fenster fiel, öffnete er die Särge – einer nach dem anderen.
Aus jedem hob er die Knochen, die in sich zusammengesunken dalagen wie verfallene Gebäude. Er trug sie hinaus auf die Wiese vor dem Portal, wo der Vollmond sie wie silberne Statuen bescheinte. Die Luft war seltsam still. Kein Tier rührte sich, nicht einmal der Nachtkauz.
Beim letzten Sarg jedoch hielt er inne. Der Deckel war ungewöhnlich schwer. Als er ihn anhob, erstarrte er.
Darin lag kein Skelett. Kein zerfallener Leib.
Ein Kind – kaum sieben Jahre alt – mit blassem Antlitz und ruhigem Atem, als würde es schlafen. Die Augen geschlossen, der Ausdruck friedlich.
Der Ritter wich zurück. Etwas in ihm bäumte sich auf. Doch die Stimme des Pilgers – oder war es nur ein Echo in seinem Kopf? – flüsterte: "Auch diesen. Du darfst keinen zurücklassen."
Wie in Trance hob er das Kind. Kaum hatte er den Sarg geleert, da geschah es:
Die Gebeine auf der Wiese richteten sich auf. Wie durch einen stummen Befehl erhoben sie sich, standen aufrecht, die leeren Augenhöhlen auf den Ritter gerichtet. Und aus ihren offenen Mündern kam eine Stimme – eine einzige, vielstimmige Klage:
"Augenblicklich trag uns in unsere Ruhestätten zurück – sonst müssen wir umgehen auf dieser Burg bis ans Ende aller Zeit!"
Der Ritter taumelte. Da hörte er ein Krachen. Aus der Kapelle trat der Pilger – doch seine Gestalt veränderte sich. Das Gewand fiel wie Rauch zu Boden, und aus seinem Leib wuchs eine Gestalt, groß wie ein Turm. Hörner brachen aus seiner Stirn, und aus seinem Rücken loderten Flammen. Seine Augen brannten wie Kohlen, sein Atem war Schwefel und Fäulnis.
"Zu spät, Narr!" brüllte die Kreatur, und die Erde begann zu beben. "Du hast das Band gebrochen – nun gehörst du mir!"
Die Klauen fuhren herab – doch da regte sich der Leichnam des Kindes in seinen Armen. Ein Licht, mild und stark wie der erste Sonnenstrahl eines neuen Morgens, ging von ihm aus. Eine Glorie umspielte sein Haupt, und mit heller, reiner Stimme sprach es:
"Weiche, Geist des Abgrunds! Noch ist Reue möglich. Dieser hier ist gefallen – aber nicht verloren."
Ein Schrei gellte durch die Nacht. Die Erde öffnete sich, verschlang die Dämonengestalt mit donnerndem Dröhnen. Ein letzter Funken Höllenfeuer zischte über die Burg, dann herrschte tiefe Stille.
Der Ritter stand da, das wieder leblos gewordene Kind auf dem Arm. Mit bebenden Händen legte er es zurück in den Sarg, dann die Knochen seiner Ahnen, einen nach dem anderen. Keine Truhe öffnete sich, kein Schatz kam zum Vorschein. Doch der Ritter klagte nicht.
Teil 4: Die Reue
Am nächsten Morgen verließ er die Yburg. Nicht in glänzender Rüstung, sondern in einem härenen Gewand, den Stab fest in der Hand, die Pilgermuschel an seiner Brust. Kein Blick zurück, nur entschlossene Schritte.
Er wanderte von Kloster zu Kloster, suchte die Stille heiliger Orte, um in Gebet und Buße Frieden zu finden. Tag für Tag, Schritt für Schritt, bat er um Vergebung und half, wo er konnte – ein Schatten der Vergangenheit, doch im Herzen ein neuer Mann.
Schließlich fand man ihn tot an den Stufen eines Altars. Die Hände gefaltet, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, als wäre auch sein letzter Atemzug von Erbarmen erfüllt.
ENDE
© 01.08.2025 Gerd Groß