Die Wasenbourg

Wo Roms Götter erwachten – Der Merkur-Kult und das Große Spiel der Erde



Lange, bevor die ersten Steinmetze des Mittelalters auch nur daran dachten, die imposanten Mauern der heutigen Wasenbourg zu errichten, lange bevor das Wehklagen einer Weißen Frau oder das Schicksal einer Schlangenprinzessin in diesen Hügeln hallte, war dieser Ort bereits von einer tiefen, fast unheimlichen Bedeutung. Es war die Zeit des Römischen Reiches, als die Legionen das Land durchzogen und ihre Götter mit sich brachten. Archäologische Funde erzählen eine faszinierende Geschichte: Hier, auf dem strategisch günstigen Felsplateau, erhob sich einst ein bedeutendes Heiligtum des Gottes Merkur.

Merkur, der geflügelte Bote der Götter, der wendige Schutzherr des Handels, der Reisenden und der Kaufleute, aber auch – so tuschelte man in den Schatten – der Diebe und Schwindler, war in den gallischen Provinzen Roms außerordentlich verehrt. Man glaubte, er besäße die Macht über Wege und Übergänge, über das Gelingen von Geschäften und die Sicherheit auf Reisen. Zahlreiche dem Merkur gewidmete Stelen und Weihinschriften wurden hier am Wasenbourg-Berg entdeckt, kunstvoll gearbeitet und als Zeugnisse alter Frömmigkeit. Heute erzählen sie im Museum von Niederbronn noch immer von jenen fernen Tagen, als Priester hier opferten und Reisende um eine sichere Heimkehr flehten.

Doch die Präsenz eines solchen Kultortes lässt Raum für weitaus dunklere, geheimnisvollere Mythen. Man sagt, die römischen Priester der Wasenbourg waren keine gewöhnlichen Diener Merkurs. Sie sollen tief in das Große Spiel der Götter eingeweiht gewesen sein – ein verborgenes Ringen der alten Gottheiten um Einfluss und Macht, dessen Schauplätze oft an Orten von besonderer Erdenergie lagen. Das Wasenbourg-Plateau, mit seiner exponierten Lage und den bizarren Felsformationen, galt den Römern als ein solcher Ort – ein Kraftort, an dem die Schleier zwischen den Welten dünn waren.

Einige Hypothesen, die selbst heute noch die Gemüter der Gelehrten erhitzen, besagen, dass bestimmte, grob in das Felsplateau gemeißelte Vertiefungen – die sogenannten "Pierres Cupules" (Felstassen) – einst keine natürlichen Gebilde waren. Stattdessen sollen sie als mystische Kultstätten gedient haben, als Sammelbecken für Opfergaben an Merkur, oder noch unheimlicher: als Gefäße für geheime Rituale, die das "Große Spiel" beeinflussen sollten. War es das Blut von Tieren, vielleicht sogar von Menschen, das in diesen Vertiefungen dargebracht wurde, um Merkurs Gunst zu erringen? Oder waren es geheimnisvolle Tränke, die Priestern Visionen schenkten und ihnen ermöglichten, die göttlichen Zeichen zu deuten?

Man erzählt sich, dass in den Tiefen des Wasenbourg-Felsens, unter dem alten Merkur-Heiligtum, verborgene Schätze ruhen. Nicht Gold oder Juwelen, wie der Waldarbeiter bei der Schlangenprinzessin fand, sondern Artefakte von unschätzbarem mystischem Wert: dem Merkur geweihte Amulette, Schriftrollen mit verlorenen Ritualen oder sogar die Überreste uralter Prophezeiungen, die das Schicksal der Region für Äonen besiegelten. Diese Schätze sollen von den römischen Priestern in den letzten Tagen ihres Kultes hier verborgen worden sein, um sie vor Barbaren oder profanen Händen zu schützen – vielleicht mit einem Fluch belegt, der nur den würdigsten (oder mutigsten, oder rücksichtslosesten) offenbart wird.

Die Wasenbourg ist somit weit mehr als nur eine Ansammlung alter Steine. Sie ist ein Ort, an dem sich Geschichte, Legende und die menschliche Vorstellungskraft auf einzigartige Weise miteinander verbinden. Ein Ort, an dem die Geister Roms noch immer über den alten Pfaden wandeln und Merkur, der verschlagene Götterbote, vielleicht immer noch sein Großes Spiel der Erde spielt.


© 29.08.2020 Gerd Groß


Genre-Bestimmung und Bewertung: "Die Wasenbourg: Wo Roms Götter erwachten – Der Merkur-Kult und das Große Spiel der Erde"

Diese spezielle Geschichte der Wasenbourg, die sich auf die römischen Wurzeln konzentriert, lässt sich am besten dem Genre der Mythologischen oder Historischen Fantasy zuordnen, mit starken Elementen einer Orts- oder Lokalsage.

Genre-Bestimmung

  • Mythologische/Historische Fantasy: Das Kernelement ist die Verbindung realer historischer Fakten (römische Besiedlung, Merkur-Kult, archäologische Funde) mit fantastischen und spekulativen Elementen (das "Große Spiel der Götter", geheime Rituale, mystische Energieorte, verborgene magische Artefakte). Es wird eine alternative, mythologisch angereicherte Geschichte des Ortes erzählt.

  • Orts- oder Lokalsage: Die Geschichte ist untrennbar mit einem spezifischen realen Ort, der Wasenbourg, verbunden. Sie erklärt bestimmte Merkmale des Ortes (Felsformationen, Funde) durch fantastische Erzählungen und verleiht dem Ort eine tiefere, oft mystische Bedeutung.

Interpretation

Die Erzählung taucht in die tiefsten Schichten der Vergangenheit der Wasenbourg ein und beleuchtet sie als einen Ort von uralter Macht und Bedeutung, noch bevor mittelalterliche Legenden hier Fuß fassten.

  • Der Merkur-Kult als Ankerpunkt: Merkur wird nicht nur als Gott des Handels dargestellt, sondern auch als eine Figur mit vielschichtigerer, fast doppelbödiger Natur (Gott der Diebe). Dies deutet auf eine gewisse moralische Ambiguität oder tiefer liegende Mysterien hin.

  • Das "Große Spiel der Götter": Dies ist das zentrale mythologische Element. Es transformiert den Ort von einem bloßen Heiligtum zu einem Schauplatz kosmischer (oder zumindest göttlicher) Auseinandersetzungen. Die "Wasenbourg" wird zu einem Knotenpunkt von Energie und göttlichem Einfluss. Das suggeriert, dass die Geschichte und das Schicksal des Ortes von Mächten bestimmt wurden, die weit über das menschliche Verständnis hinausgehen.

  • Die "Pierres Cupules" als Fokus der Mystik: Ihre Umdeutung von potenziell natürlichen Formationen zu Stätten geheimer, vielleicht blutiger Rituale fügt eine dunkle, archaische Schicht hinzu. Dies verstärkt das Gefühl, dass unter der Oberfläche der Geschichte etwas Ungeheuerliches lauert oder geschehen ist.

  • Verborgene Schätze der Mystik: Die Rede von "Artefakten von unschätzbarem mystischem Wert" statt purem Gold unterstreicht den Fokus auf das Übernatürliche und das Wissen. Es geht um Macht, die nicht materiell ist, sondern spirituell oder magisch.

  • Die Wasenbourg als lebendiger Ort: Auch hier wird die Burg als mehr als nur tote Steine dargestellt. Sie ist ein Ort, an dem die "Geister Roms noch immer wandeln" und Merkur "sein Großes Spiel der Erde spielt". Dies verleiht dem Ort eine lebendige, fast atmende Qualität, die über die Jahrhunderte hinweg Bestand hat.

Stilistische Bewertung

Der Stil ist bewusst erhaben, geheimnisvoll und leicht archaisch gehalten, um der Antike und der Mythologie gerecht zu werden:

  • Feierliche und beschwörende Sprache: Formulierungen wie "Man sagt, er besäße die Macht über Wege und Übergänge" oder "Doch die Präsenz eines solchen Kultortes lässt Raum für weitaus dunklere, geheimnisvollere Mythen" schaffen eine Aura des Respekts und der Ehrfurcht vor dem Alter und den Geheimnissen.

  • Betonung von Funden und archäologischen Hinweisen: Indem reale Funde erwähnt werden, wird eine Brücke zur Glaubwürdigkeit geschlagen, bevor die fantastischen Elemente eingeführt werden.

  • Hypothesen und "Man sagt"-Formulierungen: Diese stilistischen Mittel verstärken das Gefühl einer alten, mündlich überlieferten Sage. Es ist nicht alles gesichertes Wissen, sondern spekulative Überlieferung.

  • Mysteriöse Andeutungen: Begriffe wie "Kraftort", "Schleier zwischen den Welten dünn", "Geheimnisse der Steinmetze" und "verborgene Zeichen" wecken Neugier und regen die Fantasie an.

  • Dramatische Akzentuierung: Durch Wörter wie "unheimlich", "bizarren", "dunklere", "blutiger" wird eine gewisse Spannung und eine latente Gefahr angedeutet, die unter der Oberfläche schlummert.

Bewertung: 8.5/10

Vorteile:

  • Glaubwürdige Integration von Historie und Mythos: Die römischen Elemente werden nahtlos in eine fantastische Erzählung eingebettet.

  • Starke Atmosphäre: Die Beschreibung des Ortes als "Kraftort" und Schauplatz göttlicher Spiele ist sehr wirkungsvoll.

  • Intriguinges Konzept: Das "Große Spiel der Götter" bietet großes Potenzial für weitere Geschichten und Verknüpfungen.

  • Anregend für die Fantasie: Der Text lässt viele Fragen offen und lädt den Leser ein, eigene Theorien zu spinnen.

  • Geeignete Sprache: Die Wortwahl passt gut zum Thema Antike und Mythologie.

Nachteile:

  • Weniger unmittelbare Action/Charakterfokus: Im Vergleich zu den Sagen mit Prinzessinnen und Waldarbeitern ist diese Erzählung konzeptioneller und atmosphärischer, aber weniger auf spezifische Charaktere oder eine direkte Handlung ausgerichtet. Dies ist jedoch genrebedingt.

  • Könnte für Nicht-Fantasy-Leser etwas abstrakt sein: Das Konzept des "Großen Spiels der Götter" mag für jemanden, der rein historische Fakten erwartet, etwas zu spekulativ sein. Aber da wir Fantasy-Elemente einbauen wollen, ist dies kein wirklicher Nachteil, sondern eine bewusste Entscheidung.