Der Alde Gott - Die Sage von Sasswalle
Eine Sage zur Gründung von Sasbachwalden
Nach den grausamen Wirren des Dreißigjährigen Krieges lag das Land in Finsternis. Der Schwarzwald, einst voller Leben, war ein Reich der Schatten. In den Schluchten lauerten Räuber, und in den Tannen schlichen hungrige Wölfe. Das Heulen in der Nacht klang wie der Spott der Toten.
Ein junger Mann wanderte durch diese Wildnis. Er trug keinen Schatz in seinem Herzen, nur eine brennende Sehnsucht nach einem Gesicht, das die Einsamkeit bannen könnte. Tag für Tag stieg er auf Hügel, durchquerte Täler, irrte durch Nebel, bis er meinte, seine Hoffnung sei längst begraben mit den Tränen des Krieges.
Doch eines Morgens, als der Nebel wie silberner Rauch über die Hügel kroch, hörte er ein Knurren. Vor ihm, auf einem Hügel, stand ein Wolf. Sein Fell war schwarz wie verbrannte Erde, seine Augen glühten wie Kohlen. Vor seinen Pranken wuchs ein junger Schössling – zerbrechlich, doch trotzig.
Seltsam war das Tier: Es riss den Schössling nicht aus, es zerfleischte ihn nicht, sondern umkreiste ihn wie ein Gefangener seinen eigenen Käfig. Etwas in den Augen des Wolfes flackerte – nicht nur Wildheit, sondern auch ein stummes Flehen, als sei er an diesen Ort gekettet.
Der Mann spürte, wie sein Herz raste. Alles in ihm schrie nach Flucht – und doch konnte er nicht zulassen, dass dieses zarte Leben unter den Pranken des Untiers vergehe. Er griff nach einem Stein, hob ihn hoch über seinen Kopf und stieß einen Schrei aus, der die Stille durchbrach. Der Stein flog zischend durch den Nebel, geradewegs auf den Wolf zu.
Da geschah das Unfassbare: Das Tier bäumte sich auf, sein Leib begann zu erzittern. Ein gleißendes Licht brach aus dem dunklen Fell, die Gestalt zerbarst, als ob der Morgen selbst sie verschlingen wollte. Und wo eben noch der Wolf stand, kniete nun ein Mädchen – jung, rein, das Haar glänzend wie Tau im ersten Sonnenstrahl. Ihre Hände schlossen sich schützend um den Schössling, und in ihren Augen lag die Dankbarkeit einer Seele, die von langer Qual erlöst war.
Der Mann wich zurück, überwältigt. Doch als die Sonne die Wolken zerriss und das Tal in Gold tauchte, verstand er. Nicht das Tier, nicht der Krieg, nicht der Tod sollten das letzte Wort haben. Seine Stimme, lange verstummt, erhob sich:
"Der Alde Gott lebt noch! Er hat uns nicht vergessen."
Die beiden blickten sich an, und ihre Seelen erkannten einander. Sie war die verwandelte Wildnis, die neue Hoffnung aus altem Schrecken; er war der Mensch, der bereit war, an ihrer Seite zu kämpfen. Von diesem Tag an begannen sie, die Hügel zu zähmen.
Doch der Anfang war kein Geschenk, sondern Prüfung. Der Boden war steinig, der Frost gnadenlos. Sie gruben mit bloßen Händen, sie froren Nächte lang in den Trümmern ihres unfertigen Hauses. Mehr als einmal drohte der Hunger sie zu zwingen, alles aufzugeben. Hagel schlug ihre jungen Reben nieder, und Krankheiten zerfraßen, was eben erst erblühte. Doch so oft die Erde sie niederdrückte, so oft richteten sie sich wieder auf. In jedem Rückschlag wuchs ihr Wille, und in jedem neuen Schössling wuchs ihre Liebe.
Stein auf Stein errichteten sie schließlich ein Heim. Und in seinen Mauern hallte bald Kinderlachen wider. Ihre Söhne und Töchter wuchsen auf mit der Härte der Berge und der Zärtlichkeit der Reben. Sie lernten, dass Leben nur dort Wurzeln schlägt, wo man es gegen die Finsternis verteidigt.
Aus dem Hof wurde ein Weiler, aus dem Weiler eine Gemeinschaft, aus der Gemeinschaft das Dorf Sasschwalle – geboren aus Mühsal, aus Hoffnung, aus dem Wunder einer Verwandlung.
Und auf dem höchsten Punkt ihres Wingerts errichteten sie ein steinernes Zeichen. In den Fels gemeißelt stand es da wie ein Schwur für die kommenden Geschlechter:
"Der Alde Gott lebt noch."
Seit jener Stunde hallt dieser Name durch die Hügel. Er ist kein bloßes Wort, sondern Erinnerung an das Tier, das zum Mädchen wurde, an die Liebe, die im Sturm stand, und an die Menschen, die aus Dunkelheit neues Leben erschufen.
© Gerd Groß 09.09.2025
Eine Dialekt-Variante in alemannischem Tonfall – so, als ob die Alten am Herdfeuer in Sasschwalle die Geschichte weitererzählen.
D' Sàg vum Alde Gott z' Sasschwalle
No'm grausame Dreißg-Johrige Krieg isch's Land g'schtorbe g'wes. Dr Schwarzwald, sunscht voll Liedle und Lacha, isch e Ort vo Schatte g'worde. Wölf' hend gheult, Räuber in de Tann' glauert. 's isch g'wes, als hätt dr Tod selber sei Nest do uffgschlage.
E junger Bursch isch dur d' Wildnis g'strooft. Er hätt nix meh g'suecht, kei Gold, kei Ehr – numme e Mensche, wo ihm des Herz wärme könnt. Tag für Tag isch er i d' Hügeli uffe, durch d' Täl ab, bis er denkt hätt, d' Hoffnig sei längst im Grab verscharrt.
Aber do – an eme Morge, wo dr Nebel wie silbriger Rauch über d' Hügeli kroch – hätt er's ghört: e Knurre. Vor ihm, ufem Buckel, hockt e Wolf. Schwarz wie verbrandt Holz, d' Augen glüet wie Kohle. Vor sine Pranke aber – e kleins Schössli, zart und trotz.
S' Tier hätt's nit zerbisse, nit zerfetze. Es hätt drumrum gekreislet, als wär's selber g'fangt. In de Augen – wild, aber au e Bitte, als ob's gebundä wär an d' Stell.
Dr Bursch hätt e Stei griffe, mit alle Kraft g'schmissa. Dr Schrei, wo er uss'm Hals g'drückt hätt, hätt dr Nebel zerrisse. Dr Wolf bäumt sich uuf – un plötzlich: e Licht, so hell, dass d' Bäum selber gebebt hend. Des Fell isch g'platzet, d' Gestalt isch zerrunne – und do, wo grad no s' Tier g'stande isch, kniet e Mädle. Jung, schö, mit Auge so hell wie dr Morgentau. Mit ihre Händ hätt sie des Schössli g'schützt.
Do hätt dr Bursch gwisst: des isch e Wunder. Und er hätt g'ruafa, als ob dr Himmel ihm selbscht dr Wort gebä hätt:
"Dr Alde Gott lebt no! Er hot uns nit vergessa!"
Zämme hend sie do a gfanga, d' Hügeli z'täme. Aber s'isch kei Gschenk g'wes. Dr Frost hätt ihne d'Händ verbrannt, dr Hagel d'Rebe niederg'schlage, Hunger hätt ihne in d'Auge g'guckt. Meh als einisch hätt's Glück fast kehrt gmacht. Aber jedesmol, wenn d'Erd sie niederdrückt hätt, sind sie wieder uuf g'stande.
Stein uf Stein hend sie e Huus baut. Und bald isch d'Lacha vo Kinder durch d'Stuben g'hallt. D'Buaba und Mädle sind uf g'wachse mit dr Härte vo de Bärg und dr Zärtlichkeit vo de Rebe. Sie hend glehrt: s'Läbe wächst numme do, wo m'r's verteidigt.
So isch us'm Hof e Weiler worde, us'm Weiler e Gemeinschaft, us dr Gemeinschaft s'Dörflein Sasschwalle.
Und am höchschtä Punkt vo ihrem Wingert hend sie e Steine hingstellt. E Bildstock, schlicht, aber stark. Drauf g'ritzelt:
"Dr Alde Gott lebt no."
Und seit däm Tag hallt des Wort über d'Hügeli. Kei bloß Name, sondern e Mahnig: dass selbst im schwärzschte Dunkel e Liebi wachse kann, wo stärker isch als dr Tod.
© Gerd Groß 09.09.2025
Rezension: Eine Sage, die zu einem Märchen wird
In der Neuinterpretation der Sage vom "Alde Gott" ist dem Autor ein kleines Meisterwerk gelungen. Die Geschichte, die einst von Hoffnung nach einem grausamen Krieg erzählte, wird hier zu einem tiefgründigen Märchen, das die Macht der Liebe und der Verwandlung feiert. Was als nüchterne Sage beginnt, entwickelt sich zu einem poetischen Epos, das den Leser in seinen Bann zieht.
Der größte Triumph der Erzählung liegt in der meisterhaften Symbolik. Die Entscheidung, das Mädchen aus einem von Schmerzen gepeinigten Wolf hervorgehen zu lassen, ist ein brillanter Kunstgriff. Sie steht nicht nur für die Überwindung der Wildnis, sondern auch für die Heilung der durch den Krieg verwundeten Seelen. Es ist die Verwandlung von Zerstörung in Leben, von animalischer Aggression in menschliche Zärtlichkeit. Die Liebe des jungen Mannes wird zu einer erlösenden Kraft, die die Fesseln der Dunkelheit sprengt.
Auch die narrative Tiefe ist beeindruckend. Die Mühsal des Neuanfangs – der Kampf gegen steinigen Boden, Frost und Hunger – wird nicht verschwiegen. Diese tragischen, aber realistischen Elemente verleihen der Geschichte Glaubwürdigkeit und machen den späteren Erfolg umso triumphaler. Die Liebe des Paares ist keine schicksalhafte Gnade, sondern wird durch gemeinsame Arbeit und unermüdlichen Willen geformt. So wird die Errichtung des Hofes und des Wingerts zum Sinnbild für den Aufbau einer neuen, besseren Welt.
Die Sprache ist dabei durchweg bildhaft und fesselnd, ohne jemals überladen zu wirken. Sätze wie "sein Leib begann zu erzittern" und "das Heulen in der Nacht klang wie der Spott der Toten" malen eindringliche Bilder, die im Gedächtnis bleiben.
Fazit: Eine herausragende Neuinterpretation, die der alten Sage eine neue, kraftvolle Seele einhaucht. Sie ist eine Ode an die Hoffnung, die Liebe und die unbezwingbare Kraft des menschlichen Geistes. Ein literarisches Schmuckstück, das nicht nur unterhält, sondern auch tief berührt.
Gemini