Der Spiegel, der kein Ende kennt
Nordisch-mythologische Saga
Kapitel III – Vidars Schweigen:
Dies ist die dritte Sang von Nacht und Grau,
vom Gott, der schweigt, doch blickt genau,
von Midgards Bruch und Riss im Sein –
ein Schritt hinaus ins Dunkel rein.
Die Nacht lag schwer auf Midgard, doch kein Dunkel der Sterne barg sie. Ein fahles, rußiges Dämmern durchzog den Himmel, wie der Atem eines erstickten Feuers – das Ende eines Tages, der anders war als alle zuvor. Der Wandersmann ging weiter auf den Wegen Midgards, die Nadeln der Nebelhexe in seiner Tasche drückten, und die Fragen, die sie geweckt hatte, hallten in seinem Geist. Er war zurückgekehrt aus dem Grau, doch die Erfahrung hatte ihn verändert.
Plötzlich hielt die Welt den Atem an. Kein Windhauch, kein ferner Laut, selbst das Knistern der Äste verstummte in Midgard. Eine spürbare Stille legte sich über das Land, eine Stille, die schwerer war als jeder Lärm, als hielte Yggdrasils Atem selbst an, der alle Welten verbindet.
Aus dem Wurzelwerk eines uralten, umgestürzten Baumes, dessen Krone sich ins Nichts zu verlieren schien und dessen Wurzeln tief in den Grund Midgards griffen, trat ein Schatten hervor. Gewaltig, breit wie ein Fels, und schweigend. Ein Wolf folgte ihm, sein Blick leer und doch voller alter Weisheit – ein Blick, der die Zeitalter kannte. Der Wandersmann erkannte ihn. Dies war Vidar. Der stumme Gott. Sohn Odins. Der, dessen Fuß den Kiefer Fenrirs zerbricht. Der, der das letzte Wort im Schweigen trägt.
Vidar hob eine Hand. Er zeigte dem Wanderer auf die verwitterte Rinde des Baumes, der tief in den Boden Midgards wurzelte. Dort, tief eingeschnitten, leuchtete eine Rune im fahlen Licht: ᚢ – Uruz. Kraft. Wille. Der unaufhaltsame Wandel. Symbole, die in Midgard greifbar sind, aber deren Ursprung tiefer reicht.
Sein Blick, ohne Worte, deutete auf den Boden vor ihnen. Vidars Augen ruhten auf dem Wanderer, dann auf dem Boden, als sähen sie dieselbe tiefe Wahrheit in beiden. Dort, wo die Erde aufgerissen war, tat sich ein Spalt auf. Keine natürliche Felsspalte Midgards, sondern eine Verwerfung, ein Riss im Gefüge Midgards selbst – ein Bruch, der in die Tiefen des Kosmos zu reichen schien. Schwarz, still, doch der Wanderer spürte, wie eine kalte Energie daraus pulsierte, wie ein tiefer Herzschlag der Erde, der aus dem Takt geraten war.
Der Wanderer griff nach dem Spiegel, den er bei sich trug. Hier, in Vidars Gegenwart und am Rande des Risses in Midgard, war der Spiegel kalt und dunkel geworden. Er zeigte kein Bild, reflektierte kein Licht, nur eine bodenlose Schwärze – das Schweigen selbst, eingefangen im Glas. Es war, als würde der Spiegel die Stille Vidars und den Abgrund des Risses in sich aufsaugen und den Wanderer selbst in diesem Moment der tiefen Ruhe und des Bruchs spiegeln. Er war ein Spiegel der Stille und des Abgrunds, der sich mitten in Midgard aufgetan hatte.
Der Wandersmann wagte zu fragen: "Was ist das, mächtiger Gott? Was zeigt sich hier in Midgard?" Vidar schwieg. Doch seine Augen sprachen, ein Blick, so alt wie die Welten. Dieser Blick drang tief in den Wanderer ein, als sähe er die Reflexion des Risses nicht nur im Spiegel, sondern auch in seiner Seele. Und sie sagten: Dies ist ein Riss. Nicht nur in der Welt, die du kennst, sondern auch in dir. Und du wirst ihn durchschreiten müssen. Es gibt keinen anderen Weg. Der Bruch ist in Midgard und in deiner Seele, und du bist bestimmt, ihn zu schauen.
Dann griff Vidar in eine Ledertasche und reichte dem Wanderer etwas. Ein altes Lederband, daran ein Stein, schwer und kühl. Seine Oberfläche war bedeckt mit Runen, uralt und abgenutzt, doch der Wanderer spürte die rohe Kraft, die ihnen innewohnte – die Kraft des Willens, der über sich hinauswächst, eine Kraft, die tief aus dem Grunde der Welten stammt. Vielleicht war es die Kraft zu spiegeln, was unerträglich war.
Als der Wanderer den Stein nahm, vibrierte die Luft um sie herum kurz. Ein Gefühl, als richte sich die Welt neu aus, nicht laut, sondern im Stillen, Fundamentalen. Midgard selbst schien zu atmen.
Vidar nickte, kaum merklich, und wandte sich ab. Sein Wolf folgte ihm. Sie verschwanden im Schatten des umgestürzten Baumes, so still und unaufhaltsam wie sie erschienen waren. Zurück blieb nur der Riss im Boden Midgards.
Der Wanderer stand allein am Rande des Risses. Mit dem Runenstein, der die Macht des Wandels in sich trug. Mit dem Spiegel, der das Schweigen reflektierte. Und dem dumpfen Wissen: Nicht alles kann mit Worten erfragt werden. Manches muss durchschritten werden. Der Weg aus Midgard und durch den Riss lag vor ihm. Er war bereit, ein Spiegel des Abgrunds zu sein.
So endet die dritte Sang.
Der Riss im Land, der Riss im Ich.
Midgard zerbricht, der Weg zieht dich.
Die Neun Welten der Nordischen Mythologie
Im Zentrum der nordischen Kosmologie steht Yggdrasil, die Weltenesche, deren Wurzeln und Äste alle neun Welten miteinander verbinden. Jede Welt hat ihre eigene Natur, ihre eigenen Bewohner und ihre eigene Rolle im Gefüge des Kosmos.
Asgard (Ásgarðr):
Beschreibung: Die strahlende Burg und Heimat der Asen, des jüngeren und mächtigeren Göttergeschlechts, regiert von Odin.
Bewohner: Die Asen (Götter wie Odin, Thor, Tyr) und die Einherjer (im Kampf gefallene Krieger in Walhall).
Midgard (Miðgarðr):
Beschreibung: Die mittlere Welt, das Reich der Menschen, umgeben vom Ozean und durch die Regenbogenbrücke Bifröst mit Asgard verbunden.
Bewohner: Die Menschen.
Jotunheim (Jötunheimr):
Beschreibung: Das raue, felsige und wilde Land der Riesen, gelegen außerhalb Midgards. Ein Ort der Urkräfte und des Chaos.
Bewohner: Die Jötnar (Riesen), darunter auch Frost- und Feuerriesen (obwohl letztere auch mit Muspelheim verbunden sind).
Alfheim (Álfheimr):
Beschreibung: Das Reich der Lichtelfen, oft als Ort von großer Schönheit, Helligkeit und ätherischer Magie beschrieben. Manchmal Freyr zugeordnet.
Bewohner: Die Álfar (Lichtelfen).
Svartalfheim (Svartálfaheimr):
Beschreibung: Die Welt unter der Erde, ein Reich der Dunkelheit, Höhlen und Minen. Bekannt für sein handwerkliches Geschick und seine verborgenen Schätze.
Bewohner: Die Svartálfar (Schwarzalben) und Zwerge (Dvergar).
Muspelheim (Múspellsheimr):
Beschreibung: Das Reich des Urfeuers, ein Ort extremer Hitze, Glut und Zerstörung. Liegt im Süden des Kosmos.
Bewohner: Die Feuerriesen (Múspellsmegir), angeführt von Surtr.
Niflheim (Niflheimr):
Beschreibung: Das Reich des Ur-Eises, des Nebels und der Dunkelheit. Liegt im Norden des Kosmos und ist ein Ort der unendlichen Kälte und Stasis. Oft mit Helheim verbunden.
Bewohner: Uralte Kräfte, Eisriesen (in manchen Überlieferungen), und es grenzt an Helheim.
Helheim (Helheimr):
Beschreibung: Das Reich der Toten, die nicht im Kampf fielen. Ein grauer, kalter und lebloser Ort, gelegen in Niflheim oder darunter.
Bewohner: Die Heljar (die Toten) und die Herrscherin Hel.
Vanaheim (Vanaheimr):
Beschreibung: Die Heimat der Wanen, eines älteren Göttergeschlechts, das mit Fruchtbarkeit, Weisheit und Voraussicht assoziiert wird.
Bewohner: Die Vanir (Götter wie Freyr, Freyja, Njörðr).
Diese neun Welten bilden zusammen das gesamte Universum in der nordischen Mythologie und sind durch Yggdrasil, die Weltenesche, miteinander verbunden.
Wichtige Mythologische Figuren und ihre Bedeutung in der Saga
Die Saga des Wanderers ist durchwoben von Begegnungen mit mächtigen Wesen aus der nordischen Mythologie, deren Rollen und Eigenschaften seine Reise prägen:
Odin (Altnordisch: Óðinn):
Bedeutung in der Mythologie: Der Hauptgott der Asen, Gott der Weisheit, des Krieges, der Magie, der Dichtung und des Todes. Oft einäugig dargestellt (gab sein Auge für Weisheit). Vater vieler Götter. Wandert oft verkleidet durch die Welten.
Rolle in der Saga: Der erste göttliche Kontakt. Zeigt dem Wanderer seinen möglichen Weg und die Existenz der Welten durch die Schale. Ein weiser, aber rätselhafter Führer am Anfang.
Gullveig:
Bedeutung in der Mythologie: Eine mysteriöse und vielschichtige Figur, oft mit Gold, Gier und Hexerei assoziiert. Ihre dreifache Tötung und Wiedergeburt durch die Asen wird als Auslöser des Krieges zwischen Asen und Wanen angesehen. Sie verkörpert Verführung und Zerstörung durch Begehren.
Rolle in der Saga: Die Nebelhexe im Zwischenreich (Grenze zu Jotunheim). Konfrontiert den Wanderer mit grundlegenden Fragen nach Identität, Furcht und Wunsch und bietet ihm symbolische Gaben/Wege an. Sie repräsentiert die Vielschichtigkeit der Existenz und die Gefahr des Verlangens.
Vidar (Altnordisch: Víðarr):
Bedeutung in der Mythologie: Ein Sohn Odins, bekannt für seine Stille und Stärke. Er überlebt Ragnarök und rächt seinen Vater, indem er Fenrirs Kiefer zerbricht. Er repräsentiert standhafte Kraft und Überleben nach der Katastrophe.
Rolle in der Saga: Der stumme Gott in Midgard am Riss. Zeigt dem Wanderer die Rune des Wandels (Uruz) und den Riss im Gefüge der Welt. Seine stille Präsenz und sein Blick vermitteln tiefe, unausweichliche Wahrheiten und die Notwendigkeit, das Unbekannte zu durchschreiten.
Die Nornen (Altnordisch: Nornir):
Bedeutung in der Mythologie: Schicksalsgöttinnen, die am Urdbrunnen am Fuße Yggdrasils leben. Sie spinnen, messen und schneiden die Lebensfäden aller Wesen, Götter und Menschen. Sie verkörpern das unveränderliche Schicksal (Örlög).
Rolle in der Saga: Eine vergessene Norne in Svartalfheim. Konfrontiert den Wanderer mit den Fäden seines eigenen Schicksals und zeigt ihm mögliche Zukunftspfade. Fordert einen Preis für die Möglichkeit, das Muster zu ändern, was seine Auseinandersetzung mit dem vorbestimmten Weg vertieft.
Freya (Altnordisch: Freyja):
Bedeutung in der Mythologie: Eine der wichtigsten Göttinnen der Wanen (später bei den Asen lebend). Göttin der Liebe, Schönheit, Fruchtbarkeit, des Goldes, der Magie (Seidr) und auch des Krieges (empfängt die Hälfte der im Kampf Gefallenen in ihrem Saal Folkvangr).
Rolle in der Saga: Erscheint in der ersten Vision in Odins Schale und später in der Vision in Alfheim als Gestalt von Licht und Schönheit. Repräsentiert Hoffnung, einen neuen Weg und die Verlockung von Liebe oder einem anderen, vielleicht sanfteren Schicksal.
Die Walküren (Altnordisch: Valkyrjur):
Bedeutung in der Mythologie: Weibliche Wesen, die im Dienste Odins stehen. Sie wählen auf Schlachtfeldern tapfere, gefallene Krieger aus und bringen sie nach Walhall (oder Folkvangr). Sie verkörpern Ruhm im Kampf und das Helden-Schicksal.
Rolle in der Saga: Erscheinen in der Vision in Alfheim, die Walhall zeigt. Sie repräsentieren den Pfad des kriegerischen Ruhms und des Helden-Schicksals, der dem Weg des Wanderers gegenübergestellt wird.
Loki:
Bedeutung in der Mythologie: Ein Gott aus dem Geschlecht der Riesen (manchmal zu den Asen gezählt), bekannt für seine List, seinen Schalk, seine Verwandlungsfähigkeit und als Auslöser vieler Probleme, aber auch als Helfer der Götter. Vater von Hel, Fenrir und Jörmungandr. Eine zentrale Figur in Ragnarök. Er verkörpert Chaos und Veränderung.
Rolle in der Saga: Der Schattenmeister im Zwischenreich. Führt den Wanderer durch das Chaos zwischen den Welten. Konfrontiert ihn mit Illusion und der Unzuverlässigkeit der Realität. Seine Begegnung ist eine Prüfung des Verstehens jenseits der Oberfläche.
Hel:
Bedeutung in der Mythologie: Herrscherin über das gleichnamige Totenreich Helheim. Tochter Lokis. Oft halb schön, halb leichnamhaft dargestellt. Empfängt alle Toten, die nicht im Kampf fielen. Repräsentiert die Endgültigkeit und die nüchterne Realität des Todes.
Rolle in der Saga: Die Herrscherin Helheims. Konfrontiert den Wanderer mit dem Reich der Toten und der Endgültigkeit des Lebens. Zeigt ihm das Ende (Ragnarök) im schwarzen Spiegel. Sie ist die Wächterin über den letzten Blick.
Surtr:
Bedeutung in der Mythologie: Der Herrscher über Muspelheim und Anführer der Feuerriesen. Spielt eine entscheidende Rolle in Ragnarök, wo er mit seinem Schwert die Welt in Brand setzt. Repräsentiert die ungebändigte, zerstörerische Urkraft des Feuers.
Rolle in der Saga: Seine Präsenz dominiert Muspelheim. Obwohl nicht direkt getroffen, verkörpert er die zerstörerische Kraft, mit der sich der Wanderer konfrontiert sieht und die sich in ihm spiegelt. Seine Macht führt letztlich zur Zerstörung in Ragnarök.
Fenrir und Jörmungandr:
Bedeutung in der Mythologie: Zwei der furchterregendsten Kinder Lokis. Fenrir ist der riesige Wolf, der gebunden wird, bis er sich zu Ragnarök losreißt und Odin tötet. Jörmungandr ist die Midgardschlange, die so groß ist, dass sie die Welt umspannt und in Ragnarök gegen Thor kämpft. Sie verkörpern unkontrollierbare Naturgewalten und die zerstörerischen Mächte, die das Ende herbeiführen.
Rolle in der Saga: Schlüsselfiguren in der Darstellung von Ragnarök im Spiegel des Wanderers. Sie repräsentieren die entfesselten Kräfte des Chaos und der Zerstörung, die zum kosmischen Untergang führen.
Diese Figuren sind mehr als nur Bewohner ihrer Welten; sie sind Kräfte, Herausforderungen und Spiegelbilder der Themen, mit denen sich der Wanderer auf seiner Reise konfrontiert sieht.
Ragnarök: Das Schicksal der Götter in der nordischen Mythologie
Ragnarök bezeichnet in der nordischen Mythologie eine Reihe von entscheidenden Ereignissen, die das Ende der Welt, wie die nordischen Vötter und Menschen sie kennen, einläuten. Es ist nicht einfach nur Zerstörung, sondern ein umfassendes Schicksal, das sowohl Untergang als auch Neuanfang beinhaltet.
Die Überlieferungen beschreiben eine gewaltige Schlacht, in der die Götter, angeführt von Odin, gegen ihre Erzfeinde antreten, darunter der Fenriswolf, die Midgardschlange und der Feuerriese Surt. Viele bekannte Gottheiten wie Odin, Thor, Freya und Tyr werden in diesem Kampf fallen.
Nach der Schlacht wird die Welt in Flammen aufgehen und im Meer versinken, nur um danach wieder aufzuerstehen. Aus den Trümmern entsteht eine neue, grünere Welt, und einige überlebende Götter sowie ein menschliches Paar werden eine neue Ära beginnen. Ragnarök ist somit ein Zyklus von Tod und Wiedergeburt, der die ewige Natur des Kosmos in der nordischen Vorstellung widerspiegelt.
© Gerd Groß 31.10.2022