Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit

Kapitel 8


Das Tor des Vergessens – Der Ruf des Wiedenfelsens

Die Fee hatte Hans in seiner panischen Flucht vom Schleierfall nicht etwa zurück zu Willi geführt, sondern auf den Paradiesweg, einen Pfad, der sich von der Quelle des Schleierfalls in sanften Serpentinen emporzog. Es war ein Weg, der seinen Namen trug wie ein Versprechen: romantisch, gesäumt von einem offenen Mischwaldbewuchs, dessen Blätterdach das Sonnenlicht in goldenen Flecken auf den bemoosten Boden warf. Die Luft war erfüllt vom Duft feuchter Erde und dem leisen Murmeln des Waldes. Doch Hans nahm von all dem kaum etwas wahr. Seine Beine schmerzten, seine Lungen brannten, und der Schock sowie die namenlose Schuld über Willis Tod schnürten ihm die Kehle zu. Er rannte, bis seine Muskeln brannten und seine Gedanken sich in einem Nebel aus Verzweiflung zu verlieren drohten. Die schrecklichen Worte der Hexen, die von Gier und Verlust sprachen, hallten in seinem Kopf nach, vermischt mit Willis letztem, qualvollen Schrei.

Allmählich führte der Paradiesweg ihn auf einen felsigen Bergrücken, der sich allmählich emporhob. Die Bäume lichteten sich, und die Luft wurde kühler, vom Wind gepeitscht. Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchten vor ihm zwei gewaltige Felsformationen auf, die sich wie versteinerte Riesen aus dem Waldboden erhoben: der Wiedenfelsen. Seine massive Präsenz wirkte wie ein Urteil, das über die Landschaft sprach. Die Felsblöcke, geformt aus uraltem Granit, zeigten die typische Wollsackverwitterung, ihre runden, fast glatt geschliffenen Formen wirkten seltsam vertraut und doch bedrohlich. Es war, als würden die Felsen selbst Erinnerungen tragen, geformt von Jahrmillionen des Windes und des Wassers.

Die Fee, deren irisierende Flügel im fahlen Licht der hereinbrechenden Dämmerung zitterten, schwebte auf den größeren der beiden Felsen zu. Ihre stumme Geste war eindeutig: Hier sollte Hans seine erste Prüfung antreten. Hans folgte ihr zögernd, seine Glieder waren schwer wie Blei. Ein kurzer, kaum erkennbarer Pfad wand sich steil den Felsen hinauf. Hans musste klettern, sich an Moos bewachsenen Vorsprüngen festhalten, seine Stiefel suchten Halt auf glitschigem Gestein. Der Wind peitschte hier mit ungebremster Wucht, riss an seiner Kleidung und flüsterte alte, vergessene Namen in sein Ohr.

Als er sich mühsam auf ein kleines Plateau auf dem Felsen zog, bot sich ihm ein atemberaubender Blick über das weite Bühlertal, das sich tief unter ihm ausbreitete. Doch seine Augen suchten nicht die Schönheit. Sie suchten verzweifelt nach dem Hof, nach dem vertrauten Dach, das seine Familie schützte. Doch alles, was er sah, war eine unendliche, dunkle Waldfläche, in der sein Zuhause zu einem winzigen, unwichtigen Punkt geschrumpft war. Der Wind trug das ferne Raunen der Gertelbachfälle herauf, ein Geräusch, das nun wie ein leises Wehklagen klang.

Die Fee schwebte direkt vor Hans, ihre zarten Hände hoben sich. Aus ihren Fingerspitzen lösten sich winzige, gleißende Lichtpartikel, die sich wie schwebender Staub im Wind sammelten. Sie tanzten vor Hans' Augen, und plötzlich begann die Luft um ihn herum zu flimmern. Bilder formten sich im gleißenden Licht, schemenhaft und doch schmerzlich real.

Hans sah Willis' treue Augen, die ihn aufmunternd ansahen, als sie den Karren über eine besonders tückische Wurzel zogen. Er sah Gretes besorgtes Gesicht, als er sich auf den Weg machte, ihre Worte der Mahnung. Er sah seine Kinder, wie sie lachten, als er ihnen ein kleines Holzpferd schnitzte. Und dann sah er wieder Willis Sturz, den zerschellenden Karren, den dunklen Fleck auf dem Fell, Willis' letzten, qualvollen Schrei. Das Bild brannte sich mit schmerzhafter Klarheit in sein Gedächtnis, eine brennende Wunde, die er zu verdrängen versucht hatte.

Die Bilder wurden intensiver, vermischten sich. Die Gesichter seiner Familie verschwammen, wurden undeutlich, überlagert von den glänzenden Versprechungen des Reichtums, die er sich erhofft hatte. Er sah sich selbst, wie er die funkelnden Brocken aus dem Felsen der Zwerge riss, seine Hände waren gierig und seine Augen blind für die Warnungen. Die Stimmen der sprechenden Bäume hallten in seinem Kopf wider: "Nicht sehen... was ist... nah..." Hans fühlte, wie ihn eine überwältigende Flut von Schuld und Verzweiflung erfasste. Der Wind heulte um ihn herum, nicht nur das Geräusch des Waldes, sondern auch ein Echo seiner eigenen inneren Qual.

"Das Tor des Vergessens", flüsterte die Fee, ihre Stimme diesmal deutlicher, ein kaum hörbares Rauschen wie das von feinem Sand, der rieselt. "Es ist nicht das Vergessen deiner Schuld, sondern die Konfrontation mit ihr. Du musst den Schmerz fühlen, Hans. Du musst das Gewicht dessen tragen, was du verloren hast und was du zerstört hast. Nur dann kannst du sehen, was verborgen ist."

Die Fee hob ihre Hände erneut, und das gleißende Licht der Erinnerungen zog sich zusammen, bis es sich zu einem einzelnen, pulsierenden Punkt verdichtete. Sie legte diesen Punkt sanft auf Hans' Brust. Er spürte, wie eine eisige Kälte sich in seinem Inneren ausbreitete, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Es war der Schmerz des Verlustes, der Erkenntnis seiner Gier, der unausweichlichen Wahrheit, dass seine Handlungen Konsequenzen hatten. Die runde, glatte Form des Wiedenfelsens spiegelte die Glätte wider, mit der er seine eigenen Fehler verdrängt hatte. Nun fühlte er sie alle.

Als der Schmerz ein wenig nachließ, blieb eine tiefe, schmerzhafte Leere zurück. Er war nicht mehr blind für seine Schuld, doch er wusste auch nicht, wie er sie wiedergutmachen konnte. Die Fee schwebte zurück und deutete auf einen Pfad, der sich nun, kaum merklich, vom Wiedenfelsen hinunter in die Tiefe schlängelte, vorbei an weiteren Felsformationen, die wie erstarrte Gestalten im Halbdunkel lauerten. Dieser Pfad führte ihn direkt zum Gertelbach, dessen Rauschen nun deutlich lauter wurde. Es war ein steiler Abstieg, der ihn in das tiefeingeschnittene, moosbewachsene Tal führen würde, das sich unter ihm auftat. Hans wusste, dass dies erst der Anfang war. Das "Tor des Vergessens" hatte sich ihm nicht als Ausweg, sondern als schmerzhafte Wahrheit offenbart.

© 26.05.2025 Gerd Groß 

<<< I < 08 I 14 Kapitel > I >>>