Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit

Kapitel 7


Am Schleierfall – Das Rätsel der Hüterinnen

Die schmale, verborgene Spur, die die Fee Hans gewiesen hatte, führte ihn aus dem dichten Dickicht des Eulensteins heraus und mündete sanft auf eine kleine, bemooste Lichtung. Die Luft hier war feucht und kühl, erfüllt vom Donnern des Wassers, das sich in majestätischem Fall über eine steile Felswand ergoss – der Schleierfall. Kristallklares Wasser stürzte wie ein flüssiger Vorhang herab, der in der schwindenden Dämmerung in allen Farben des Regenbogens schimmerte und die Felsen darunter mit ewigem Moos und Farnen überzog. Es war ein Ort von wilder, ungezähmter Schönheit, doch Hans spürte, dass hier eine noch tiefere, uralte Kraft wirkte.

Am Fuße des Schleierfalls, wo der Wasserdampf die Luft erfüllte und kleine, silbrige Wassertropfen auf den Blättern tanzten, fand Hans sie: die Hexen des Bühlertäler Waldes. Sie waren nicht die verbitterten, alten Frauen, von denen die Geschichten erzählten, sondern Wesen, die in ihren Bewegungen die Anmut des Waldes und in ihren Augen die Tiefe uralter Geheimnisse trugen. Sie waren versammelt, nicht in heimlicher Bosheit, sondern in einem ehrfürchtigen Kreis, der ein sanft pulsierendes Licht in der Mitte umschloss. Jeder Blick, jede Geste sprach von einer tiefen Verbundenheit mit diesem Ort, als wären sie ein Teil des Wasserfalls selbst, geformt aus Stein, Moos und dem rauschenden Nass.

Alruna, deren Hände glitzernde Kristalle hielten, sang mit einer klaren, melodischen Stimme, die sich mit dem Rauschen des Wassers zu einem betörenden Chor vereinte. Die Steine in ihren Händen begannen zu leuchten, ein sanftes Pulsieren, das die Luft mit einer fast spürbaren Energie erfüllte.

Lindara stand daneben, ihre Hände bewegten sich flink über Körbe voller Kräuter, deren erdiger Duft sich mit der feuchten Luft vermischte. Sie sprach leise zu den Pflanzen, fast wie eine Mutter zu ihren Kindern, und ein schwacher, süßlicher Rauch stieg von einem kleinen, steinernen Altar auf, auf dem dampfende Essenzen blubberten.

Morwenna bewegte sich mit einer dunklen, hypnotischen Eleganz um den Kreis, ihre Bewegungen waren so fließend wie das fallende Wasser. Sie warf kleine, glitzernde Blüten ins tosende Wasser, die sofort von den Strömungen erfasst wurden und in einem Strudel von Licht und Farbe versanken. Ihre Augen glänzten vor einer seltsamen Intensität, als würde sie die Geheimnisse des Abgrunds selbst in sich tragen.

Weba, mit ihren flinken Fingern, webte an einem Netz aus schimmernden Fäden, die in der feuchten Luft wie Spinnweben im Morgentau aussahen, doch stärker und feiner als alles, was Hans je gesehen hatte. Sie flüsterte alte Sprüche, die sich wie das Rascheln trockener Blätter anhörten, und kleine, lumineszierende Kugeln schwebten in ihrem Netz, jedes ein gefangener Hauch von Magie.

Waldhild, umgeben von einer Aura tiefer Ruhe, saß am Rande des Kreises, eine große Eule auf ihrer Schulter, die den Ort mit wachsamen Augen überblickte. Sie schien die Stille zu verkörpern, doch ihre Präsenz war mächtig und beruhigend zugleich.

Hans, noch immer zitternd von der Flucht und dem Schock über Willis' Tod, versteckte sich hinter einem großen Felsbrocken. Er wagte kaum zu atmen, so tief war er in den Bann dieser magischen Szene gezogen. Dies waren keine gewöhnlichen Frauen; dies waren die Hüterinnen der Wildnis, die hier am Schleierfall ein uraltes Ritual vollzogen, um das Gleichgewicht des Waldes zu bewahren oder eine Kraft zu besänftigen, die sie in den Tiefen des Gebirges spürten – vielleicht die gleiche, die die Zwerge in ihrer Gier geweckt hatten. Er verstand nicht alles, was er sah, doch er spürte die immense Macht und die Ehrfurcht, die von diesem Ort ausgingen.

Plötzlich hörte Hans ein leises Flüstern, das nicht vom Wind oder dem Wasser kam. Es war eine Stimme, die so klar war wie der Quell des Schleierfalls selbst, und sie schien direkt aus dem Herzen des Wassers zu sprechen. Es war die Fee. Sie schwebte nun neben ihm, ihr irisierender Schimmer tanzte in den Tropfen des Wasserfalls. Ihr zartes Gesicht war ernst, ihre Augen tief und weise. Sie deutete auf die Hexen, dann auf das Zentrum ihres Kreises, wo das Licht pulsierte.

"Sie sehen dich", flüsterte die Fee in einem Ton, der nur für Hans bestimmt zu sein schien. "Sie wissen um deine Reise und um den Verlust. Sie werden dich nicht angreifen, sondern prüfen. Sie sind die ältesten Hüterinnen dieser Wälder, geboren aus dem Nebel und den Quellen, die das Land speisen. Ihre Rituale hier am Schleierfall sind so alt wie die Berge selbst, um das Gleichgewicht der Welt zu schützen. Und sie sehen die Gier in den Herzen der Menschen, die den Wald plündern, und die Wut derer, die gestört werden."

Hans spürte einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Die Fee hatte gesprochen! Ihre Stimme war weich wie Moos, doch ihre Worte hatten die Wucht eines rollenden Steins. Bevor er antworten konnte, drehten sich die Hexen gleichzeitig um. Ihre Augen, alt und tief wie Bergseen, trafen seine. Keine Spur von Zorn oder Überraschung, nur eine uralte, erwartungsvolle Weisheit.

Alruna trat einen Schritt vor, ihr kristallklarer Blick bohrte sich in Hans' Seele. Ihre Stimme, die nun nicht mehr sang, sondern sprach, war wie das Echo von Felsen, die sich auftürmten: "Hans, der du verloren hast, was dir lieb war, weil die Gier dein Herz vernebelte. Das Gold des Berges ist kein wahrer Schatz, wenn es das Leben kostet." Lindara nickte, ihr Gesang verstummte. "Du suchst Reichtum, doch was nützt ein volles Scheunendach, wenn das Herz leer ist und die Seele wund?" Morwenna lächelte ein düsteres Lächeln, das Hans frösteln ließ. "Die Welt hält mehr bereit als glänzendes Metall. Aber die Wahrheit wird dir nur enthüllt, wenn du bereit bist, loszulassen, was dich bindet." Weba hob ihre zarten Hände, und die schimmernden Fäden in ihrer Hand zitterten. "Der Weg ist verworren, die Fäden des Schicksals sind unklar. Wer das Rätsel löst, findet den wahren Pfad." Waldhild trat näher, die Eule auf ihrer Schulter gurrte leise. Ihre Stimme war tief und beruhigend, doch ihre Worte hatten die Härte von Granit. "Der Schleierfall ist nicht nur ein Ort des Wassers, sondern des Übergangs. Hinter seinem Vorhang liegt das, was du suchst – aber nur, wenn du die Worte der Alten verstehst."

Sie bildeten einen Halbkreis vor ihm, und Alruna hob einen leuchtenden Kristall. Die anderen Hexen legten ihre Hände darauf, und das Licht pulsierte stärker. "Drei Tore liegen vor dir, Hans", sagte Alruna mit einer Stimme, die nun wie das Rauschen des Wasserfalls selbst klang. "Das erste ist das Tor des Vergessens, das zweite das Tor der Prüfung, das dritte das Tor der Wahrheit. Jedes Tor verlangt einen Preis, jedes birgt eine Lehre. Wenn du das wahre Gold finden willst, musst du das Rätsel des Schleierfalls lösen."

Sie sangen ein weiteres, kurzes Lied, das Hans nicht verstand, doch es fühlte sich an wie eine unsichtbare Hand, die seine Gedanken umhüllte. Als der Gesang verstummte, war das Licht im Kreis erloschen. Die Hexen lösten sich auf, ihre Gestalten verschwammen im Nebel des Wasserfalls, als wären sie nie dagewesen. Nur der Donner des Wassers blieb, und Hans stand allein da, das schreckliche Bild Willis' noch vor Augen, doch in seinem Herzen pulsierte nun auch das Rätsel der Hexen, verworren und doch voller Verheißung. Der Schleierfall vor ihm wirkte nun wie ein lebendiges Tor, das die Grenze zwischen seiner Welt und einer viel tieferen, magischen Realität markierte.

© 26.05.2025 Gerd Groß 

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