Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit
Kapitel 6
Der Eulenstein, der Sturz und die zarte Hand
Der Pfad, kaum mehr als eine Wildspur, führte nun steil bergab, direkt am Fuße des massiven Eulensteins entlang. Dessen graue, zerklüftete Wände türmten sich bedrohlich über Hans auf. Die dunklen Höhlen und Spalten, die sein Antlitz durchzogen, wirkten wie gierige, leere Augenhöhlen, und eine unheimliche Stille, schwer und drückend, lag über diesem steinernen Reich. Es war eine Stille, die Hans fast körperlich spürte, eine Warnung, die sich in seine Seele fraß. Es hieß, in diesen verborgenen Gängen hausten die Steinhäute – wie die Trolle hier genannt wurden –, und es war ratsam, ihren stillen Wohnort ungestört zu passieren. Ihr Gemüt war unberechenbar, ihre Geduld so dünn wie die Moosflechten auf den Felsen, und das Echo von Lärm in der Nähe ihrer Behausungen weckte schnell ihren unbändigen, steinernen Zorn. Die Steinhäute des Eulensteins schienen selbst zu lauschen, ihre kühlen, massiven Leiber vibrierten leicht unter dem Gewicht der uralten Ruhe.
Hans' Herz schlug schneller, als er die schwere Ahnung spürte, die von diesem Ort ausging. Er hatte versucht, den Karren so leise wie möglich zu bewegen, doch jeder Stoß, jedes Knarren des Holzes, jeder rollende Stein unter Willis Hufen, hallte unheilvoll in der stillen Bergwelt wider. Willi zog mit angespannter Kraft, seine Muskeln zuckten unter seinem Fell, seine treuen Augen auf den steinigen Pfad gerichtet, als ahnte er die Gefahr, die in den Felsen lauerte. Die Steinhäute des Pfades schienen sich unter dem Karren zu weigern, ihre rauen Oberflächen rieben sich knirschend, als würden sie sich selbst zu widersetzen.
Oben, in einer tiefen, schattenhaften Felsspalte, zuckten knollige, gelbliche Augen zusammen. Dann noch ein Paar, und noch eines. Ein leises Grollen, wie das Verschieben von tonnenschweren Felsbrocken, drang aus der Tiefe. Die Steinhäute, in ihrer steinigen Behausung in ihrer Ruhe gestört, stießen tiefe, gutturale Knurrlaute aus, die wie das Reiben von Fels auf Fels klangen – ein Geräusch, das Hans das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hans presste die Lippen zusammen, flehte Willi stumm an, schneller zu sein. Doch es war zu spät.
Ein gewaltiger Schatten löste sich von der Felswand. Einer der grimmigsten von ihnen, ein Koloss mit einer Haut wie grob behauener Granit und Augen, die glühten wie geschmolzenes Erz, packte einen faustgroßen, spitzen Stein. Mit einem Urschrei, der die Schlucht erzittern ließ, schleuderte er ihn mit roher, ungestümer Gewalt in Richtung des lästigen Geräuschs. Der Stein pfiff durch die Luft, ein Vorbote des Unheils.
Der schwere Stein traf den Karren mit einem donnernden Schlag, der Hans durch Mark und Bein ging. Holz splitterte mit einem peitschenden Geräusch, Metall verbog sich kreischend, und der Wagen wurde mit solcher Wucht zur Seite gerissen, dass er kippte und mit einem lauten Krachen auf dem steinigen Pfad, dessen Steinhäute die Wucht des Aufpralls widerhallten, zerschellte. Die wertvolle Ware – robuste Äxte, schwere Hämmer, scharfe Sensen und kunstvoll verzierte Beschläge – flog wie unbedeutendes Spielzeug über den steinigen Pfad, prallte von den Steinhäuten ab und wurde entweder zerschmettert oder rollte klirrend und unbrauchbar davon.
Willi traf der Aufprall mit voller Wucht. Ein entsetzlicher Schrei entrang sich seiner Kehle, ein Geräusch voller Schmerz und namenloser Angst, das Hans für immer in seinen Albträumen verfolgen sollte. Seine Beine knickten ein, und er sank mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden. Hans sah fassungslos, wie das Leben aus den treuen Augen seines Gefährten wich, wie sich der dunkle Fleck auf seinem Fell ausbreitete und das letzte Zucken seines Körpers erstarb. Der Anblick schnitt Hans ins Herz, ein roher Schmerz durchfuhr ihn, vermischt mit blanker Panik. Die Schuld, die Last dieses Todes, legte sich wie ein eisiger Schleier auf seine Seele, schwerer als jeder der Werkzeuge auf dem Karren gewesen war.
Mit mächtigen, ungestümen Schritten, die den Boden erzittern ließen, stürmten nun zwei weitere grimmige Steinhäute aus ihren Felsspalten hervor. Ihre gelblichen Augen glühten vor rasender Wut, ihre groben, wie Felsbrocken geformten Fäuste ballten sich drohend. Der Anblick des zerstörten Karrens und des leblosen Pferdes schien ihren Zorn nur noch weiter anzuheizen, ihre kehligen Schreie hallten wie das Krachen von Steinen durch die Schlucht. Hans erkannte die unmittelbare, lebensbedrohliche Gefahr. Er hatte ihre Ruhe auf unheilvolle Weise gestört, und nun forderten sie einen blutigen Preis. Die Erinnerung an Willis' schrecklichen Tod trieb ihn an, nicht die Rache, sondern die pure, nackte Angst zu überleben. Ohne eine Sekunde zu zögern, wandte er sich ab und rannte um sein Leben, die wütenden, steinernen Schreie der Steinhäute dicht hinter ihm, ihre schweren Schritte wie Donnerschläge auf dem steinigen Untergrund, der unter ihrer Wut bebte. Jeder Atemzug war ein Kampf, jeder Herzschlag ein Schmerz, doch der Gedanke an Grete und seine Kinder, die ihn brauchten, zwang ihn weiter.
In seiner Verzweiflung, während scharfe Steine unter seinen Füßen schmerzten und seine Lungen brannten, bemerkte Hans am Rande seines Blickfelds eine kleine, zierliche Fee, deren Flügel in der schwindenden Dämmerung wie irisierendes Glas schimmerten. Sie schwebte ein Stück vor ihm, ihre Bewegungen leicht und lautlos, im Gegensatz zu den brutalen Schritten der Verfolger. Ihr zartes Gesicht war von tiefer Besorgnis gezeichnet, doch sie sprach kein Wort. Stattdessen deutete sie mit einer winzigen, leuchtenden Handbewegung, die wie ein Akt der Vorsehung in seiner aussichtslosen Lage wirkte, auf einen schmalen, kaum erkennbaren Pfad, der sich tückisch zwischen knorrigen Baumwurzeln und moosbewachsenen Steinhäuten hindurchwand. Es war ein Pfad, den er aus eigener Kraft niemals gefunden hätte, verborgen vor den Augen derer, die nur die große, breite Straße kannten.
Instinktiv, getrieben von purer Überlebensangst und dem traumatischen Bild Willis' leblosen Körpers, folgte Hans der stummen Weisung. Der Pfad war so schmal, dass er sich kaum hindurchzwängen konnte, Dornen rissen an seiner Kleidung, Äste peitschten ihm ins Gesicht, doch die Fee schwebte immer in Sichtweite, wies ihm den Weg durch ein grünes Labyrinth, das die massigen Körper der Steinhäute unmöglich passieren konnten. Der Lärm der wütenden Verfolger schien langsam hinter ihm zurückzubleiben, als der Pfad ihn tiefer in das unwegsame, fast paradiesische Gelände führte. Dieser verborgene Steig, so schien es, kannte nur wenige Schritte von Menschen oder Steinhäuten – ein stiller, unberührter Pfad, der fast wie ein Versprechen auf eine sichere Zuflucht wirkte, ein Hauch von Hoffnung in der tiefsten Dunkelheit.
Der Pfad führte Hans über mehrere kleine, kristallklare Wasserläufe, deren kühles Nass seine aufgekratzte Haut kühlte und einen kurzen Moment der Linderung von den Schmerzen der hastigen Flucht brachte. An manchen Stellen musste er über glatte, tückische Steine balancieren, an anderen half ihm die Fee mit einer leichten, kaum spürbaren Berührung, den Halt nicht zu verlieren. Der Wald um ihn herum schien sich zu verändern, die Bäume standen lichter, und der Duft von Wildblumen lag in der Luft, ein sanfter Kontrast zu dem steinernen Schrecken, der hinter ihm lag.
Die Fee schwebte des Weges kundig, deutete mal auf einen sicheren Tritt, mal auf einen tiefhängenden Ast, vor dem er sich ducken musste. Ihre Führung war präzise und intuitiv, sie kannte jeden Winkel dieses verborgenen Pfades. Die massigen Steinhäute konnten ihnen nicht folgen, zu klobig waren ihre Beine, zu stämmig ihre Leiber! Doch die Fee führte ihn sicher weiter, vorbei an glitzernden Quellen, über moosbewachsene Hänge und durch dichte Farnwälder. Ihre stumme Hilfe war sein einziger Hoffnungsschimmer in dieser verzweifelten Lage, ein zarter Schutzengel vor der steinernen Wut seiner Verfolger, und der schreckliche Verlust Willis trieb ihn unaufhaltsam vorwärts. Er war nicht nur auf der Flucht, sondern auch auf der Suche nach einem Sinn in diesem Chaos, einem Sinn für den unermesslichen Verlust, den er gerade erlitten hatte, und eine leise, neue Entschlossenheit begann in ihm zu keimen.
© 26.05.2025 Gerd Groß