Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit
Kapitel 13
Die Gabe des Waldes – Eine mysteriöse Begegnung
Hans setzte seinen Heimweg fort, doch der Wald, der ihn einst so bedrohlich und undurchdringlich erschien, war nun voller unerwarteter Schönheiten und leiser Botschaften. Jeder Schritt auf diesem anderen Pfad, den er seit seiner Flucht vor den Steinhäuten eingeschlagen hatte, führte ihn tiefer in die neue Erkenntnis, die er in der Höhle gefunden hatte. Seine Gier war einer tiefen Demut gewichen, und seine Sinne waren geschärft für das, was wirklich zählte.
Der Gedanke an Willi huschte immer wieder durch seinen Geist, eine schmerzhafte Erinnerung an seinen größten Fehler, an das Opfer, das er für seine Gier gebracht hatte. Es legte sich eine Schwere auf sein Herz, doch es war keine lähmende Verzweiflung mehr, sondern ein Ansporn, von nun an anders zu leben. Willis treue Augen waren ein Mahnmal, das er nun in sich trug, wo immer er auch ging.
In diesem Moment der stillen Einkehr, abseits der bekannten Pfade, wo die Natur noch unberührter schien, fiel sein Blick auf etwas Kleines, Unscheinbares. Es war keine blühende Schlüsselblume mehr, doch in einem Spalt des moosbewachsenen Gesteins entdeckte Hans einen winzigen, ausgetrockneten Blumensamen. Er war kaum größer als ein Stecknadelkopf, doch von ihm ging ein leises, beinahe magisches Glühen aus.
Die Fee erschien wieder, ihre Gestalt fast durchsichtig in der Dämmerung des Waldes, ihre leuchtenden Augen fixierten den Samen in Hans' Hand. Ihre Stimme war ein Flüstern, das Hans' Gedanken zu durchdringen schien: "Dieser Samen, Hans... er ist nicht einfach nur ein Keim. Er ist der Klang eines alten Ungleichgewichts, das tief in diesen Bergen schlummert. Es ist der Echo der Gier, die vor langer Zeit die Zwerge verführte und die Murg in ihrem Zorn anschwellen ließ. Du hast diesen Samen gefunden, weil er dich gerufen hat, weil du bereit bist, die wahre Natur der Dinge zu verstehen. Er ist der Ursprung des Hungers, der niemals satt wird, aber er birgt auch das Potenzial für wahre Fülle, wenn er im Boden der Achtung und Weisheit gesät wird."
Hans starrte auf den Samen, die Worte der Fee hallten in seinem Geist nach. Er erinnerte sich an die Geschichten der alten Hexen, die von der Ursache allen Übels sprachen, das das Gleichgewicht des Waldes bedrohte, und die flüsternden Bäume, die ihn vor dem "Nicht-Sehen" warnten. Dieser winzige Samen war also der Schlüssel, der zu einer großen Flut der Murg geführt hatte, zu Chaos und Verderben. Seine erste Reaktion war Furcht – Furcht vor der Macht, die er repräsentierte, Furcht vor der Versuchung, die er in sich trug. Er könnte ihn nutzen, um Macht zu erlangen, vielleicht sogar Reichtum auf eine andere Weise. Doch die Lektion der Höhle war frisch in seinem Geist. Der wahre Wert lag nicht im Besitz, sondern im Gleichgewicht, im Schutz der Natur.
Die Fee nickte langsam, ihre Augen so alt wie die Wälder selbst. "Jeder Same birgt eine Wahl, Hans. Die Macht liegt nicht im Besitz des Samens, sondern in der Entscheidung, wie du mit ihm umgehst. Der Same, der einst das Gleichgewicht störte, kann auch der Beginn einer neuen Harmonie sein. Er ist der Kern des Problems, aber auch der Schlüssel zur Lösung, wenn er im Boden der Achtung und Weisheit gesät wird."
Hans schloss die Augen. Er hielt den Samen fest in seiner Hand, spürte seine winzige, dunkle Energie, die nun auch ein Potenzial für Gutes barg. Er hatte nun verstanden, dass seine Gier der Auslöser des Übels war und dass er nun die Macht hatte, den Fluch zu beenden, indem er ihn in Gutes verwandelt. Dies war der letzte Akt auf Hans' Reise. Die Natur hatte ihn nicht nur seine Gier gelehrt, sondern ihm auch den Schlüssel in die Hand gegeben, um das Böse zu überwinden.
Als er den Samen fest umklammerte, spürte Hans plötzlich, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Ein tiefes, grollendes Murmeln erhob sich aus der Erde, nicht länger bedrohlich, sondern wie ein zustimmendes Seufzen, das aus den Tiefen des Berges kam. Er blickte auf und sah in der schwindenden Dämmerung, wie die massigen Umrisse der Steinhäute, die einst drohend aus ihren Felsspalten gestürmt waren, sich nun regungslos am Horizont abzeichneten. Ihre gelblichen Augen, die einst vor Zorn glühten, leuchteten nun mit einem fernen, ruhigen Schimmer. Sie waren still, ihre Anwesenheit eine Bestätigung der Harmonie, die Hans in sich gefunden hatte, als ob sie seine Entscheidung anerkannten. Es war eine Stille, die lauter sprach als jeder Schrei, ein uraltes Einverständnis zwischen ihm und dem Felsen selbst.
Er wusste nicht, was ihn zu Hause erwartete. Würde Grete ihn verstoßen? Würde sie ihn verstehen? Er hatte nichts Materielles mitgebracht, keine Reichtümer, keine Geschenke. Nur eine leere Seele, die nun von einer neuen Art von Reichtum erfüllt war – der Erkenntnis des Wahren – und einen winzigen Samen, der die Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. Der Weg war lang, aber er war bereit, ihn zu gehen. Jeder Schritt war eine Buße und ein Versprechen zugleich. Ein Versprechen, dass er von nun an anders leben würde, im Einklang mit der Natur und im Herzen seiner Familie.
© 26.05.2025 Gerd Groß