Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit
Kapitel 11
Das Tor der Wahrheit – Die Prüfung der Illusion
Mit der zarten Schlüsselblume fest in seiner Hand kehrte Hans vom oberen Ende des Gertelbach-Wasserfalls zum Höhleneingang zurück. Sein Herz pochte nicht mehr nur vor Erschöpfung, sondern auch vor einer fiebrigen Erwartung. Dies war der Schlüssel, davon war er überzeugt, der ihm unermessliches Gold offenbaren würde, ähnlich dem, was er in der Zwergenhöhle nur kurz erblickt hatte. Die Gier, die auf dem Wiedenfelsen nur oberflächlich besänftigt worden war, loderte in ihm erneut auf, genährt von der Verheißung der Inschrift: "Tretet ein und findet ewigen Reichtum."
Die Fee, die still am Höhleneingang schwebte, nickte ihm mit einem Ausdruck zu, der sowohl Zustimmung als auch eine leise Wehmut enthielt. "Die Höhle wartet", flüsterte sie, ihre Stimme kaum lauter als das Summen einer Biene. Hans spürte die magische Präsenz der Schlüsselblume in seiner Hand, als wäre sie ein lebendiger Puls. Er hob sie an, drückte sie sanft gegen das kalte Gestein des Höhlenportals, genau an jener Stelle, wo die Inschriften sich wie offene Wunden in den Felsen gruben.
Ein leises Grollen durchzog das Tal, nicht wie Donner, sondern wie das tiefe Seufzen der Erde selbst. Risse zogen sich durch das Gestein um den Höhleneingang, und mit einem ächzenden Geräusch begann sich der Felsen langsam, fast widerwillig, zur Seite zu schieben. Eine tiefe, dunkle Öffnung tat sich auf, die von einem unnatürlichen, blendenden Licht erhellt wurde. Dies war das dritte Tor, das Tor der Wahrheit, und es zog Hans mit unwiderstehlicher Kraft in seinen Bann.
Zögernd trat Hans ein. Die Luft in der Höhle war warm und trocken, erfüllt von einem metallischen Glanz, der ihm die Sinne raubte. Tief in der Höhle, verborgen in einem weiten, natürlichen Hohlraum, erstreckte sich vor seinen Augen ein Anblick, der ihn atemlos machte. Es war kein bloßer Schatz, sondern eine überwältigende Ansammlung von Reichtümern. Massive Adern von reinem, leuchtendem Gold durchzogen die Wände und den Boden der Höhle, glänzten in jedem Winkel. Daneben lagen Haufen von funkelnden Edelsteinen, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten, und aufgetürmte Ballen von kostbaren, seidenweichen Stoffen, gewebt mit Fäden aus Silber und Gold. Hier lagen Gold-Nuggets von Faustgröße, tiefrote Rubine, smaragdgrüne und saphirblaue Steine, die alle das magische Licht reflektierten, das von irgendwoher tief im Felsen kam. Ein Reichtum, der alle Träume übertraf, die er je gehegt hatte. Hans' Augen weiteten sich, seine Gier packte ihn mit einer Macht, die stärker war als je zuvor. Das war der ewige Reichtum, das Versprechen, die Wiedergutmachung, die er gesucht hatte!
Er schaufelte die funkelnden Nuggets, die glänzenden Steine in seine Taschen, stopfte sie in seinen Gürtel, hing sich die kostbaren Stoffe über die Schultern, wollte alles nehmen, was er auf die Schnelle erreichen konnte. In seiner grenzenlosen Gier, in seinem Tunnelblick auf den Reichtum, fiel Hans, ohne es zu bemerken, die zarte Schlüsselblume achtlos aus der Hand. Der Gedanke an Grete und die Kinder verschwamm in dem blendenden Glanz. Nur der unermessliche Besitz zählte noch.
Doch in dem Moment, als seine Taschen prall gefüllt waren und er sich umdrehen wollte, um aus der Höhle zu gehen, geschah es. Ein leises Zischen erfüllte die Luft, und das blendende Licht der Schätze begann zu flackern. Ein tiefes, bedrohliches Knirschen setzte ein, das den Boden unter Hans' Füßen erzittern ließ. Mit einem krachenden Donner hallte es durch die Höhle, als sich die gewaltige Felswand, die den Eingang bildete, unerbittlich zu schließen begann. Dunkelheit kroch von den Rändern herein, und Hans sah mit Entsetzen, wie sich sein einziger Ausweg auf ein schmaler werdendes Lichtspalt reduzierte. Panik ergriff ihn, als das Tor fast geschlossen war. Die goldenen Adern an den Wänden schienen zu schmelzen, ihre Konturen verschwammen, und der strahlende Glanz wich einem fahlen, matten Schimmer. Hans spürte, wie das Gewicht in seinen Taschen leichter wurde. Mit entsetzten Augen sah er zu, wie die festen Gold-Nuggets sich zu feinem Staub zersetzten, die Edelsteine zu gewöhnlichem Kiesel wurden und die kostbaren Stoffe zu trockenem Laub zerfielen. Er versuchte, den Staub, die Steinchen und die welken Blätter festzuhalten, doch sie rieselten ihm unaufhaltsam durch die Finger, als wären seine Hände nicht fest genug, um eine Illusion zu fassen.
Inmitten des zerfallenden Glanzes trat die Fee vor. Ihr Schimmer war nun leuchtender als je zuvor, ihre Augen voller Klarheit. "Das war die Prüfung, Hans", sagte sie, ihre Stimme durchdrang den letzten Staub der Illusion. "Dieser 'ewige Reichtum', den du sahst, war ein Trugbild. Die Höhle selbst begann zu schrumpfen, nicht physisch, sondern in deiner schmerzhaften Erkenntnis. Das Gold, das du gesehen hast, ist das Tor der Wahrheit. Es zeigt dir, dass wahrer Reichtum nicht im Besitz von glänzendem Metall, kalten Steinen oder gewebtem Prunk liegt, der zu Staub zerfällt, wenn er aus seinem Herzen gerissen wird. Die Zwerge, die dieses Gold sammelten, verstanden seinen Wert nicht, sondern jagten nur diese Illusion, die wie Sand durch die Finger rinnt. Die 'wahre Formel' ist nicht die Gier, sondern die Achtung vor dem, was die Natur dir gibt. Die 'Lösung, die im Herzen der Natur verborgen liegt', ist das Leben selbst, die Verbundenheit mit dem Wald, dem Wasser, den Kreaturen. Alles, was du gesucht hast, war schon da."
Hans fiel auf die Knie, die hohlen Taschen seiner Kleidung raschelten leise. Die letzte Spur des Goldstaubes, der Kies und des Laubes war verschwunden. Er sah Grete und die Kinder vor sich, ihr Lächeln klar und ungetrübt von Gier. Er dachte an Willis treue Augen, die er geopfert hatte für eine Illusion. Er verstand die Worte der Hexen, die vom Gleichgewicht sprachen, die mahnten, "nicht sehen... was ist... nah...". Er hatte nur die Oberfläche gesehen, den Schein, das glänzende Versprechen, und dabei das wahre, unvergängliche Gut übersehen. Die Natur, der Wald, seine Familie – das war der wahre Reichtum, der nicht zu Staub zerfiel.
Die Höhle hatte sich langsam hinter ihm geschlossen, nicht mit einem Grollen, sondern mit einem sanften Klicken, als wäre ein Schloss in sein rechtes Fach gefallen. Die Schlüsselblume, die er achtlos fallen gelassen hatte, war nirgendwo mehr zu sehen, als wäre sie mit der Illusion des Reichtums verschwunden. Hans stand allein da, vor dem nun wieder unscheinbaren Höhleneingang. Doch er war nicht mehr derselbe Hans. Die Gier war verschwunden, ersetzt durch eine schmerzhafte, aber befreiende Erkenntnis. Sein Weg führte ihn nicht mehr zu irgendeinem Reichtum, sondern zurück, dorthin, wo sein wahrer Schatz wartete: sein Zuhause.
© 26.05.2025 Gerd Groß