Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit
Kapitel 10
Der Ruf des Wassers – Die Inschrift und die Suche
Nach der schmerzhaften Konfrontation auf dem Wiedenfelsen, wo das Tor des Vergessens Hans seine eigene Schuld schonungslos vor Augen geführt hatte, folgte er dem Pfad, den die Fee ihm gewiesen hatte. Es war ein steiler Abstieg, der ihn immer tiefer in das Herz des Waldes führte. Das Rauschen des Gertelbachs schwoll mit jedem Schritt an, wurde zu einem grollenden Donner, als der Pfad ihn direkt in das tiefeingeschnittene Tal leitete. Die Luft wurde feuchter, die Felsen zu beiden Seiten des Baches türmten sich hoch auf, behangen mit sattgrünem Moos und glitzernden Farnen. Diese mächtigen steinernen Formen des Tals schienen die uralte Geschichte des Wassers und des Waldes in sich zu tragen, ihre Präsenz war massiv und ehrfurchtgebietend. Es war ein wildromantischer Ort, in dessen Mitte sich der Gertelbach wie ein lebendiges Band durch das Tal schlängelte, über zahllose Kaskaden und kleine Wasserfälle stürzend. Alte, knorrige Bäume klammerten sich an die felsigen Hänge, ihre Wurzeln wie versteinerte Finger, die sich in das Gestein krallten, während der Wind Geschichten in ihren knorrigen Ästen erzählte.
Hans spürte, wie ihn die Erschöpfung übermannte. Die Flucht vor den Steinhäuten, der Verlust Willis und die emotionale Wunde auf dem Wiedenfelsen hatten seine Kräfte aufgezehrt. Er musste sich ausruhen. Als er sich umblickte, sah er, dass der Pfad ihn direkt zu einer tiefen Felsspalte führte, einem dunklen Schlund im Herzen des Tales, der sich wie eine Höhle auftat. Die Fee schwebte bereits am Eingang der Höhle, ihre irisierenden Flügel zitterten sanft in der kühlen Luft, die vom herabstürzenden Wasser des Gertelbach Wasserfalls aufstieg. Der Wasserfall, dessen Kaskaden sich über moosbewachsene Felsen ergossen und das Sonnenlicht in tausend winzige Regenbogen brachen, thronte majestätisch über ihnen.
Hans trat näher an den Höhleneingang. Das Innere versprach Schutz vor der feuchten Kälte des Tals, und ein Hauch von trockener, erdiger Luft wehte ihm entgegen. Hier, so spürte Hans, war das zweite Tor, das die Hexen angesprochen hatten. Doch bevor er eintreten konnte, fiel sein Blick auf zwei Inschriften, die in das kalte Gestein des Höhlenportals geätzt waren, direkt neben dem Eingang, wo das Wasser des Falls einen glatten Fleck hinterlassen hatte. Die Zeichen waren uralt, fast unleserlich, von der Zeit und dem Wetter abgewaschen. Sie schienen die geheimnisvolle Sprache des Berges selbst zu sein, die von den uralten Kräften des Ortes kündeten.
Mühsam entzifferte Hans die Worte. Die erste Inschrift, in archaischen, kantigen Zeichen, verkündete:
"Tretet ein und findet ewigen Reichtum." "Doch nur wer die wahre Formel kennt..."
Darunter, in einer anderen, geschwungeneren Schriftart, folgte die zweite Botschaft, die wie ein leises Flüstern aus dem Felsen selbst zu kommen schien:
"Sprich die Lösung, die im Herzen der Natur verborgen liegt."
Hans runzelte die Stirn. Ewiger Reichtum? Das klang verlockend, zu verlockend. Das war es, wonach er gesucht hatte! Die "wahre Formel" und die "Lösung" – das mussten die letzten Schritte sein, um an das unermessliche Gold der Berge zu gelangen. Er las die Worte immer wieder, seine Gedanken kreisten um das schimmernde Metall, das er in der Höhle der Zwerge gesehen hatte und das ihm so viel versprach. Er spürte die alte Gier in sich aufsteigen, einen Hunger, der selbst die Prüfung auf dem Wiedenfelsen nicht ganz hatte stillen können. Was bedeutete diese "Formel", dieses "Herz der Natur"? Ihm fiel es schwer, die tiefere Bedeutung zu erfassen, seine Gedanken waren noch zu sehr auf das Offensichtliche, den Reichtum, fixiert.
Die Fee, die Hans' Unverständnis und das aufflammende Begehren in seinen Augen bemerkte, schwebte näher. Ihre leuchtenden Augen fixierten ihn. Sie hob ihre zarte Hand und deutete zum oberen Ende des Wasserfalls, wo sich das Wasser in einer schmalen Schlucht sammelte, bevor es sich in die Tiefe stürzte. Ihre Stimme, leise wie das Rascheln von Blättern, trug ein Echo der Hexen in sich: "Die Höhle birgt die letzte Wahrheit, Hans. Doch sie wird sich dir nicht ohne den Schlüssel offenbart. Die Worte, die du gelesen hast, sind das Rätsel. Er ist alt, älter als das Gestein selbst, und nur wer genau hinhört und hinsieht, wird ihn finden. Er ist unscheinbar, doch mächtig in seiner Reinheit, verborgen dort, wo das Wasser die Felsen küsst."
Hans verstand nun. Die Inschriften waren keine bloßen Worte an einem Tor, sondern eine Aufforderung, ein Rätsel, das einen physischen Schlüssel erforderte, um die Tür zur nächsten Erkenntnis zu öffnen. Dieser Schlüssel musste ihm helfen, die "Formel" zu finden und die "Lösung" zu sprechen, um endlich an das Gold zu gelangen. Der Aufstieg zum oberen Ende des Wasserfalls schien unmöglich, doch die Worte der Fee hatten eine neue Entschlossenheit in ihm geweckt. Er musste diesen Schlüssel finden, um dieses seltsame Spiel zu beenden und endlich wieder nach Hause zu können.
Er begann seinen Aufstieg, eine mühsame Kletterpartie entlang des Wasserfalls. Jeder Tritt musste genau bedacht sein, die Felsen waren glitschig vom ewigen Sprühnebel. Hans klammerte sich an Wurzeln, suchte Halt in winzigen Felsspalten, während das donnernde Rauschen des Wassers seine Gedanken zu verschlucken drohte. Er spürte die immense Kraft des Wassers, wie es unaufhörlich über die Kante stürzte, eine Macht, die sowohl zerstören als auch reinigen konnte.
Oben, wo der Bach sich vor seinem Fall sammelte und das Wasser in tiefen, glatt geschliffenen Becken zur Ruhe kam, suchte Hans nach dem Hinweis der Fee. Er strich über das kühle, bemooste Gestein, ließ seine Finger durch das eiskalte Wasser gleiten, das unaufhörlich vorbeiströmte. Er lauschte dem Flüstern des Windes und dem Murmeln des Baches, suchte nach einem Zeichen, einem Gefühl. Die Zeit schien stillzustehen, als er sich ganz auf seine Sinne verließ, jede Ablenkung ausblendete.
Plötzlich, in einer kleinen, unscheinbaren Nische, die der ewige Fluss des Wassers fast unsichtbar poliert hatte, sah Hans es. Dort, wo das Moos am dichtesten wuchs und der Sprühnebel des Wasserfalls den Felsen wie einen Schleier umhüllte, ragte ein zarter, grünlicher Stiel hervor. An seinem Ende blühte eine einzelne, goldgelbe Schlüsselblume. Sie war so zerbrechlich, so unauffällig, und doch schien von ihr ein leises, inneres Glühen auszugehen, das Hans' Blick fesselte. Das war der Schlüssel, nicht aus Stein, nicht aus Metall, sondern ein Geschenk der Natur selbst, rein und unberührt.
Als Hans die zarte Schlüsselblume vorsichtig pflückte, durchfuhr ihn eine Welle der Vorfreude und der Ungeduld. Dies war der Schlüssel, der ihn endlich zum Gold führen würde! Er warf einen entschlossenen Blick auf die Höhle zurück. Er hatte den Schlüssel gefunden. Die nächste Prüfung wartete.
© 26.05.2025 Gerd Groß