Der Junge von Nebenan
Kapitel 33: Brüche und Brücken
Es war ein zäher Winterbeginn. Kein Schnee, nur klamme Kälte und Himmel, die sich nicht entscheiden konnten zwischen Grau und Dunkelblau. Leo stand am Rand der Turnhalle, blickte auf die Kinder, die unter seiner Anleitung übten. Die neue Gruppe war wild, laut, chaotisch. Manche hatten Aggressionen, andere Angst – viele beides.
Er kannte das. Die Zerrissenheit. Die Unruhe im Bauch, wenn man nicht wusste, wohin mit sich.
"Abwehr, nicht Flucht!", rief er in die Halle, aber seine Stimme blieb weich, nicht strafend. Ein kleiner Junge sah auf, schüttelte den Kopf, dann versuchte er es noch einmal.
Leo war nun Teil des Projekts Perspektive durch Bewegung. Kein vollwertiger Trainer – noch nicht –, aber ein fester Bestandteil. Er sprach mit Schulen, Jugendzentren, manchmal mit Eltern, die sich schon lange nicht mehr um ihre Kinder kümmerten. Es war Arbeit mit rostigen Werkzeugen – mühsam, manchmal frustrierend. Aber es war echt.
Malik war wieder da. Irgendwie.
Er kam nicht regelmäßig. Manchmal stand er einfach draußen und rauchte. Manchmal trainierte er mit. Aber selten sprach er über das, was passiert war. Leo fragte nicht. Noch nicht.
Und dann kam dieser Nachmittag.
Leo hatte gerade seine Tasche gepackt, wollte abschließen, als er Malik am Mattenrand sitzen sah. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Schuhe durchnässt.
"Kann ich heut Nacht bei dir pennen?" fragte Malik, ohne aufzusehen.
Leo nickte. Kein Zögern. Keine Bedingungen.
Sie schwiegen beim Abendessen, hörten Musik, wie früher. Doch als Leo ihm eine Decke reichte, sah Malik ihn zum ersten Mal wieder richtig an.
"Ich hab Scheiße gebaut, Leo."
Leo blieb ruhig. Setzte sich ihm gegenüber. "Was genau?"
Malik presste die Lippen zusammen. Lange. Dann: "Ich war bei denen. Alten Freunden. Kurz. Hab was gemacht, das ich nicht hätte machen sollen. Nix Großes. Aber..." – seine Stimme brach – "ich hab's nicht geschafft, nein zu sagen."
Leo nickte. Langsam. Die Wahrheit war kein Schock. Eher ein Stich, tief und still.
"Und jetzt?", fragte er.
"Ich will raus. Richtig. Aber... ich glaub nicht, dass ich's allein schaffe."
Die Stille war dicht. Und warm. Leo sah ihn an. Dann griff er nach dem Notizbuch, das noch immer auf seinem Nachttisch lag. Blätterte nach hinten. Und schrieb:
Brücken bauen ist schwer.
Aber manchmal reicht es, dass jemand drüben steht und sagt: Ich warte.
Er riss die Seite raus, reichte sie Malik.
"Du schaffst es nicht allein. Musst du auch nicht."
Malik las. Dann lachte er leise, brüchig.
"Du bist echt 'n Streber geworden, Alter."
"Mag sein", sagte Leo. "Aber ein Streber, der dich nicht hängen lässt."
Sie lachten beide. Kurz. Aber echt.
Und in dieser Nacht schliefen sie beide – nicht traumlos, aber ruhig.