Der Junge von Nebenan
Kapitel 31: Schattenkind
Der nächste Morgen roch nach kaltem Beton, nach Nebel und altem Rauch. Leo war auf der Mauer eingenickt, das Notizbuch noch neben sich, feucht vom Tau. Die Stadt erwachte mit ihrem typischen Lärm – ein hupendes Auto, ein bellender Hund, das Quietschen einer Mülltonne.
Er rieb sich die Augen. Kein Zeichen von Malik. Nicht gestern. Nicht in der Nacht.
Er stand auf, streckte sich. Der Körper schmerzte vom Sitzen, aber der Kopf war klar. Er hatte eine Entscheidung getroffen – nicht mit einem großen Ja, sondern mit einer Entschlossenheit, die bleibt, wenn alles andere wankt.
Leo klopfte wieder an Türen. Ging die Straßen ab, fragte in kleinen Läden. Überall dasselbe Schulterzucken. Oder Schweigen.
Manche verschwinden, ohne je wirklich da gewesen zu sein.
Dann, am Nachmittag, im kleinen Jugendzentrum, das Leo früher selbst gemieden hatte wie die Pest – der erste Hinweis.
Ein Mädchen mit gefärbten Haaren, kaum älter als Malik, saß auf dem Fensterbrett, hörte Musik über Kopfhörer. Als Leo ihren Namen nannte, hob sie den Kopf.
"Malik? Der hat bei uns gepennt. Zwei Nächte oder so. Hat nix gesagt. Kam spät, ging früh. War neben der Spur. Dann war er weg."
"Hat er was dagelassen? Irgendwas gesagt?"
Sie sah Leo lange an, dann runzelte sie die Stirn, als würde sie sich an etwas erinnern.
"Er hat gesagt, falls 'Leo mit den ruhigen Augen' vorbeikommt, soll ich ihm das hier geben."
Sie kramte in ihrer Jackentasche, zog einen zerknitterten Zettel hervor und reichte ihn wortlos.
Darauf, krakelig mit schwarzem Filzstift:
Ich wollte stark sein, Leo. Aber ich glaub, ich hab's versaut.
Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Vielleicht da, wo niemand mehr fragt.
Wenn du mich findest –
finde ich mich vielleicht auch wieder.
Leo las den Zettel dreimal. Spürte, wie ihm etwas in der Brust eng wurde. Kein Schock. Kein Zorn. Etwas Tieferes. Eine stille Trauer.
Er bedankte sich leise, steckte den Zettel ein.
Am Abend ging er zurück zur alten Halle. Die Lichter waren aus, der Wind spielte mit einem Stück Plastik. Leo setzte sich wieder auf die Mauer, doch diesmal hatte er etwas im Blick, das er vorher nicht gesehen hatte.
Ein Junge, kaum zu erkennen im Dämmerlicht. Dünn, mit Kapuze. Stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Tat, als würde er sein Handy checken.
Leo sah genau hin. Bewegte sich nicht. Sagte kein Wort.
Der Junge stand lange da.
Dann verschwand er in der Dunkelheit.
Leo sagte auch jetzt nichts. Aber sein Blick ruhte auf der Stelle, an der der Schatten gestanden hatte.
Manche Wege gehen nicht gerade. Manche Menschen müssen erst verschwinden, um zu wissen, wohin sie gehören.
Später, allein in seinem Zimmer, öffnete Leo das Notizbuch erneut. Er schrieb keine neue Seite. Stattdessen strich er das letzte Wort seines Briefes an Malik durch:
"Ich geh nicht, bis du mir in die Augen schaust."
Er setzte ein anderes Wort darunter:
"Ich warte."
Und diesmal war das kein Schwur.
Sondern ein Versprechen.