Der Junge von Nebenan

Kapitel 12: Der Schatten der Vergangenheit


Die Befragung war keine Unterhaltung.
Sie war ein Verhör.

Leo saß wieder dort – auf diesem kalten Plastikstuhl, der sich anfühlte, als wolle er ihn erfrieren.
Gegenüber dieselben Gesichter wie damals: kühl, sachlich, reglos.

"Sie waren im Zimmer, Herr Baumgartner. Kurz vor dem Diebstahl."
Die Stimme des Kommissars tönte wie das Ticken einer Uhr.
"Und Ihre Akte spricht für sich."

Leo schwieg einen Moment zu lange.
Dann:
"Ich war da, ja. Aber ich war es nicht."
Seine Stimme klang hohl in diesem Raum, der nach Misstrauen roch – nach altem Kaffee, Papier und aufgestauten Zweifeln.

Keine Beweise. Aber auch kein Alibi.
Nur der Raum, der ihm langsam den Atem nahm.

Die Polizistin schrieb, Seite für Seite.
Jeder ihrer Striche klang wie ein Hieb auf sein neues Leben.

Er war wieder der Junge mit der Vergangenheit.

Als Leo das Revier verließ, schlug ihm die Nachtluft wie eine kalte Ohrfeige ins Gesicht.
Eine Strafe, so fühlte es sich an. Nicht für das, was er getan hatte, sondern für das, was er war – oder gewesen war.

Dann sah er sie.
Silhouetten im Halbdunkel.

Chiko. Hassan. Zwei andere aus der alten Gang.
An eine Mauer gelehnt, wie Schatten, die nie ganz verschwinden.

"Na, alter Freund?", rief Chiko.
Seine Stimme war schneidend, spöttisch, messerscharf.
"Schon wieder Stress mit den Bullen? Hast du uns vermisst?"

Leos Fäuste ballten sich, reflexhaft.
Sein Atem wurde flach. Die Muskeln unter der Jacke spannten sich.
Die alte Wut war da – vertraut, gefährlich.

Doch diesmal blieb er stehen.

"Lasst mich in Ruhe", presste er hervor.
Seine Stimme war tief, voller Rost und Zorn.

Hassan lachte leise, spuckte einen Rauchring in die Kälte.
"Der Kleine spielt jetzt den Saubermann. Trainiert mit Opas und erzählt was von Ehre, hm?"

Chiko trat einen Schritt vor. Seine Augen waren schmal und hart.
Aber da war auch etwas anderes in ihnen: eine Kränkung.
Ein Hauch von Verrat.
Nicht, weil Leo ausgestiegen war – sondern weil er etwas gefunden hatte, was Chiko nie hatte.

"Du kannst uns nicht hintergehen, Leo. Du bist einer von uns. Du warst es immer."
Er zeigte auf Leos Sporttasche.
"Du willst jetzt auf Sport machen? Auf sauberer Bürger? Du bist ein Witz."

Leo atmete durch. Langsam. Wie David es ihm beigebracht hatte.

"Ich bin raus."

Ein kurzes, fast belustigtes Schweigen.
Dann:

"Nein. Bist du nicht", zischte Chiko.
Sein Ton war wie Eis, das bricht.

"Du hast mit uns verdient. Du hast gelernt, wie es läuft. Und jetzt kommt der letzte Job. Einer, der dir ein Leben lang reicht."

In seinen Augen lag kein Feuer. Sondern Kälte.
Wie jemand, der schon lange aufgehört hatte, an Auswege zu glauben.

Für Chiko war die Straße kein Abenteuer. Sie war Naturgesetz.
Wer sich ihr entzog, stellte nicht nur sich in Frage – sondern ihn. Seine Weltsicht. Seine "Familie".

Chiko beugte sich vor, sein Atem war giftig nah.

"Oder… wir sorgen dafür, dass dein neues Leben ganz schnell endet.
Weber. Der Karate-Heini. Vielleicht auch das Heim.
Niemand ist unantastbar, Leo."

In Chikos Stimme lag keine Wut – nur Zweckmäßigkeit.
Wie jemand, der keine Grenzen mehr kennt, weil er nie welche gehabt hat.
Er hatte gelernt, mit Druck zu führen.
Mit Schuld. Mit Angst. Mit Zugehörigkeit, die wie Ketten war.

Und er war nicht dumm.
Er wusste, wo Leo verwundbar war.

Rückblende: Leo war zwölf.
Die Nacht war nasskalt gewesen, sein Herz hatte gepocht wie ein Vorschlaghammer.
Chiko hatte ihm befohlen, Schmiere zu stehen.

"Wir sind Familie, Leo. Keiner verrät den anderen."
Damals hatte das Wort Familie nach Wärme geklungen.
Nach Schutz.
Nach etwas, das er nie gehabt hatte.

Er hatte es geglaubt.
Und war geblieben.

"Morgen. Hafen, alte Lagerhalle", sagte Chiko.
Befehl, kein Angebot.
"Sei da. Oder du wirst zusehen, wie dein schönes neues Leben zu Staub wird."

Er grinste. Ein Grinsen ohne jede Seele.
Dann drehte er sich um, und die Dunkelheit verschluckte ihn.
Die anderen folgten. Lautlos.

Leo blieb stehen.
Allein.
Die Worte brannten wie Stacheldraht in seinem Kopf.

Herr Weber. David. Das Heim.
Die Drohung war nicht leer.
Chiko war nie leer gewesen.

Er war ein Anführer – nicht aus Größe, sondern aus Leere.
Und in dieser Leere hatte er gelernt, andere mit sich zu reißen.

Leo wusste das.
Weil er es selbst getan hatte.

Er schloss die Augen. Sah Weber vor sich – mit seinen wissenden, milden Augen.
David – mit dem strengen, aufrechten Blick, der nie weich war, aber immer ehrlich.

Das war seine neue Welt.
Und sie stand jetzt auf dem Spiel.

Zum ersten Mal spürte Leo, was Verantwortung wirklich bedeutete:
Nicht nur für sich.
Sondern für andere. Für Vertrauen, das man ihm geschenkt hatte.

Der Schatten der Vergangenheit war zurück.
Und diesmal war er nicht bereit, ihm zu weichen.
Nicht mehr.