Der Spiegel, der kein Ende kennt

Nordisch-mythologische Saga


Kapitel XI – Ragnarök

Dies ist die elfte Sang von letztem Streit,
vom Ende aller Endlichkeit,
vom Spiegel, der in Stücke bricht –
und neuem Keim im alten Licht.

Der Weg hatte den Wanderer durch alle neun Welten geführt, durch Midgards Unrast, die Grenze zu Jotunheims List, Svartalfheims Tiefen, Alfheims Licht, Vanaheims Sehnsucht, Muspelheims Feuer, Niflheims Kälte und Helheims Stille. Er trug die Narben der Erkenntnis auf seiner Seele, die Gaben und Bürden der Begegnungen, den Runenstein, die Nadeln, und den Spiegel, der nun tiefschwarz und stumm in seiner Hand lag – ein Spiegel des Endes, das er in Helheim geschaut hatte.

Er stand allein auf welken Fluren, einem Ort, der keinem Reich mehr zuzuordnen war, sondern dem Rande der Zeit selbst, dort, wo die Fäden aller Welten zusammenliefen. Kein Laut war mehr zu hören, kein Wind trug Zeichen, keine Welt rief mehr mit vertrauter Stimme. Nur der schwarze Spiegel – alt, rissig, von den Reisen gezeichnet, ein Gefäß der gesammelten Eindrücke – zitterte in seiner Hand, schwach, doch mit einer spürbaren Vibration, als würde der Kosmos selbst darin beben. Das Zittern schien aus ihm selbst zu kommen, ein Echo der Welten in seinem Inneren.

Und dann brach es los. Nicht als fernes Grollen, sondern als ein gleichzeitiges, ohrenbetäubendes Krachen, das aus allen Richtungen kam und das Gefüge der Existenz zersprengte. Aus dem schwarzen Spiegel in seiner Hand stieg ein Bild auf, nicht im Glas, sondern aus dem Glas hervorbrechend, so gewaltig und real, dass es nicht nur den Himmel über diesem leeren Ort, sondern das Firmament aller neun Welten flackerte und in Stücke riss.

Fenrir, der gewaltige Wolf, zerriss die letzten Ketten der Götter, sein Gebrüll war der Klang des beginnenden Endes, es hallte von Asgard bis nach Helheim. Jörmungandr, die Midgardschlange, erwachte brüllend aus den Tiefen, ihr Körper erhob sich aus dem Meer, das Midgard umgibt, und sie spie Gift über alle Lande. Surtr, entfesselt aus Muspelheims Feuer, stürmte mit seinem flammenden Schwert voran, das gleißend hell war und doch alles verzehrte, zielend auf Asgard. Der Weltenbaum Yggdrasil, der alle neun Welten verband, erbebte in seinen tiefsten Wurzeln in Niflheim und Svartalfheim, seine Krone in Alfheim und Vanaheim welkte, seine Äste brachen unter der Last des Krieges.

Die Götter traten in die letzte Schlacht, ihre Schicksale erfüllt, die in den Runen geschrieben standen und im Spiegel des Endes gezeigt wurden: Odin, der Allvater, mit Speer und Weisheit, stellte sich dem rasenden Wolf – und fiel, verschlungen von jenem, dessen Fesseln er einst schmiedete. Thor, der Donnergott, der Beschützer Midgards, kämpfte gegen die giftige Schlange – sie vernichteten sich in einem einzigen, gewaltigen Stoß, Himmel und Meer erzitterten, und ihre Leiber sanken in die Tiefe. Heimdall, der Wächter über Bifröst, die Regenbogenbrücke nach Asgard, und Loki, der Listige, aus dem Chaos der Übergänge – Licht und List – trafen aufeinander in einem finalen Schlag, der beide auslöschte.

Der Spiegel in des Wanderers Hand zeigte all dies gleichzeitig. Nicht nacheinander wie eine Geschichte. Sondern wie ein explodierendes Mosaik aus Feuer, Eis, Wut und Verzweiflung, das im Glas brannte und splitterte unter der unvorstellbaren Gewalt. Er war nicht nur ein Betrachter der Ereignisse, er war verbunden mit ihnen, fühlte ihren Widerhall in jeder Faser seines Seins. Seine Haut schien selbst die brennenden Bilder widerzuspiegeln.

Und als der letzte Splitter des Spiegels mit einem scharfen Klirren, das dennoch im Lärm des Untergangs fast verstummte, fiel, fiel auch der Wanderer auf die Knie. Nicht aus Erschöpfung allein. Sondern aus der überwältigenden Erkenntnis, die ihn traf wie ein Blitz, klarer als jeder Blick in die Schale oder den Spiegel zuvor. Er verstand nun.

Er war nicht nur Zeuge der Reise durch die Welten gewesen. Nicht nur Träger der Gaben und Bürden. Nicht nur der, der das Ende schaute. Er war der Spiegel. Das Gefäß für das Schicksal der Welten. Ein Auge des Kosmos, das sehen musste, was niemand sehen wollte oder konnte: das Ende. Ragnarök. Ein Ende, das Teil des göttlichen Spiels war, das Odin ihm einst offenbart hatte. Er war das Werkzeug, durch das die Endgültigkeit sichtbar wurde, für sich selbst und vielleicht für die sterbenden Götter, für die versinkenden Reiche. Seine ganze Reise, seine Fähigkeit, die Welten aufzunehmen und zu reflektieren, war darauf ausgerichtet, dieser Spiegel zu werden, der das unerträgliche Bild trug und widergab. Die Welten lebten und starben in seiner Spiegelung.

Flammen, entfesselt aus Muspelheim, fraßen Himmel, Erde, Meer. Die neun Welten verbrannten in sich selbst, reduziert auf Asche und Ur-Energie, die in das Nichts zurückkehrte. Und dann: Stille. Absolute, vollständige Stille, die nur vom feinen Rieseln der Asche gebrochen wurde. Das Ende war gekommen.

Doch wo das Feuer schweigt, kann neues Grün entstehen. Wo Asche liegt, trägt eines Tages ein Halm die Hoffnung. Und in der Ferne – fern fern – hörte der Wanderer, der nun mehr war als nur ein Mann, aber noch nicht wusste, was, ein Kind lachen. Ein hoher, klarer Laut in der unendlichen Stille nach dem Ende, das erste Versprechen eines neuen Anfangs.

Ob es ihn erreichte? Ob der Spiegel, der nun in tausend Stücken um ihn lag, je wieder ganz wurde, um eine neue Welt zu reflektieren? Ob die Asche sich hob oder für immer ruhte?

Niemand weiß es.

Denn das Glas, das kein Ende kennt,
trägt vielleicht schon, im Neubeginn,
den ersten Riss der Welten hin.

So endet die elfte Sang.
Das Ende kam, das Spiel ist aus.
Doch neues Keimen sucht sein Haus.

© Gerd Groß 10.05.2022

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Die Neun Welten der Nordischen Mythologie

Im Zentrum der nordischen Kosmologie steht Yggdrasil, die Weltenesche, deren Wurzeln und Äste alle neun Welten miteinander verbinden. Jede Welt hat ihre eigene Natur, ihre eigenen Bewohner und ihre eigene Rolle im Gefüge des Kosmos.

  1. Asgard (Ásgarðr):

    • Beschreibung: Die strahlende Burg und Heimat der Asen, des jüngeren und mächtigeren Göttergeschlechts, regiert von Odin.

    • Bewohner: Die Asen (Götter wie Odin, Thor, Tyr) und die Einherjer (im Kampf gefallene Krieger in Walhall).

  2. Midgard (Miðgarðr):

    • Beschreibung: Die mittlere Welt, das Reich der Menschen, umgeben vom Ozean und durch die Regenbogenbrücke Bifröst mit Asgard verbunden.

    • Bewohner: Die Menschen.

  3. Jotunheim (Jötunheimr):

    • Beschreibung: Das raue, felsige und wilde Land der Riesen, gelegen außerhalb Midgards. Ein Ort der Urkräfte und des Chaos.

    • Bewohner: Die Jötnar (Riesen), darunter auch Frost- und Feuerriesen (obwohl letztere auch mit Muspelheim verbunden sind).

  4. Alfheim (Álfheimr):

    • Beschreibung: Das Reich der Lichtelfen, oft als Ort von großer Schönheit, Helligkeit und ätherischer Magie beschrieben. Manchmal Freyr zugeordnet.

    • Bewohner: Die Álfar (Lichtelfen).

  5. Svartalfheim (Svartálfaheimr):

    • Beschreibung: Die Welt unter der Erde, ein Reich der Dunkelheit, Höhlen und Minen. Bekannt für sein handwerkliches Geschick und seine verborgenen Schätze.

    • Bewohner: Die Svartálfar (Schwarzalben) und Zwerge (Dvergar).

  6. Muspelheim (Múspellsheimr):

    • Beschreibung: Das Reich des Urfeuers, ein Ort extremer Hitze, Glut und Zerstörung. Liegt im Süden des Kosmos.

    • Bewohner: Die Feuerriesen (Múspellsmegir), angeführt von Surtr.

  7. Niflheim (Niflheimr):

    • Beschreibung: Das Reich des Ur-Eises, des Nebels und der Dunkelheit. Liegt im Norden des Kosmos und ist ein Ort der unendlichen Kälte und Stasis. Oft mit Helheim verbunden.

    • Bewohner: Uralte Kräfte, Eisriesen (in manchen Überlieferungen), und es grenzt an Helheim.

  8. Helheim (Helheimr):

    • Beschreibung: Das Reich der Toten, die nicht im Kampf fielen. Ein grauer, kalter und lebloser Ort, gelegen in Niflheim oder darunter.

    • Bewohner: Die Heljar (die Toten) und die Herrscherin Hel.

  9. Vanaheim (Vanaheimr):

    • Beschreibung: Die Heimat der Wanen, eines älteren Göttergeschlechts, das mit Fruchtbarkeit, Weisheit und Voraussicht assoziiert wird.

    • Bewohner: Die Vanir (Götter wie Freyr, Freyja, Njörðr).

Diese neun Welten bilden zusammen das gesamte Universum in der nordischen Mythologie und sind durch Yggdrasil, die Weltenesche, miteinander verbunden.

Wichtige Mythologische Figuren und ihre Bedeutung in der Saga

Die Saga des Wanderers ist durchwoben von Begegnungen mit mächtigen Wesen aus der nordischen Mythologie, deren Rollen und Eigenschaften seine Reise prägen:

  1. Odin (Altnordisch: Óðinn):

    • Bedeutung in der Mythologie: Der Hauptgott der Asen, Gott der Weisheit, des Krieges, der Magie, der Dichtung und des Todes. Oft einäugig dargestellt (gab sein Auge für Weisheit). Vater vieler Götter. Wandert oft verkleidet durch die Welten.

    • Rolle in der Saga: Der erste göttliche Kontakt. Zeigt dem Wanderer seinen möglichen Weg und die Existenz der Welten durch die Schale. Ein weiser, aber rätselhafter Führer am Anfang.

  2. Gullveig:

    • Bedeutung in der Mythologie: Eine mysteriöse und vielschichtige Figur, oft mit Gold, Gier und Hexerei assoziiert. Ihre dreifache Tötung und Wiedergeburt durch die Asen wird als Auslöser des Krieges zwischen Asen und Wanen angesehen. Sie verkörpert Verführung und Zerstörung durch Begehren.

    • Rolle in der Saga: Die Nebelhexe im Zwischenreich (Grenze zu Jotunheim). Konfrontiert den Wanderer mit grundlegenden Fragen nach Identität, Furcht und Wunsch und bietet ihm symbolische Gaben/Wege an. Sie repräsentiert die Vielschichtigkeit der Existenz und die Gefahr des Verlangens.

  3. Vidar (Altnordisch: Víðarr):

    • Bedeutung in der Mythologie: Ein Sohn Odins, bekannt für seine Stille und Stärke. Er überlebt Ragnarök und rächt seinen Vater, indem er Fenrirs Kiefer zerbricht. Er repräsentiert standhafte Kraft und Überleben nach der Katastrophe.

    • Rolle in der Saga: Der stumme Gott in Midgard am Riss. Zeigt dem Wanderer die Rune des Wandels (Uruz) und den Riss im Gefüge der Welt. Seine stille Präsenz und sein Blick vermitteln tiefe, unausweichliche Wahrheiten und die Notwendigkeit, das Unbekannte zu durchschreiten.

  4. Die Nornen (Altnordisch: Nornir):

    • Bedeutung in der Mythologie: Schicksalsgöttinnen, die am Urdbrunnen am Fuße Yggdrasils leben. Sie spinnen, messen und schneiden die Lebensfäden aller Wesen, Götter und Menschen. Sie verkörpern das unveränderliche Schicksal (Örlög).

    • Rolle in der Saga: Eine vergessene Norne in Svartalfheim. Konfrontiert den Wanderer mit den Fäden seines eigenen Schicksals und zeigt ihm mögliche Zukunftspfade. Fordert einen Preis für die Möglichkeit, das Muster zu ändern, was seine Auseinandersetzung mit dem vorbestimmten Weg vertieft.

  5. Freya (Altnordisch: Freyja):

    • Bedeutung in der Mythologie: Eine der wichtigsten Göttinnen der Wanen (später bei den Asen lebend). Göttin der Liebe, Schönheit, Fruchtbarkeit, des Goldes, der Magie (Seidr) und auch des Krieges (empfängt die Hälfte der im Kampf Gefallenen in ihrem Saal Folkvangr).

    • Rolle in der Saga: Erscheint in der ersten Vision in Odins Schale und später in der Vision in Alfheim als Gestalt von Licht und Schönheit. Repräsentiert Hoffnung, einen neuen Weg und die Verlockung von Liebe oder einem anderen, vielleicht sanfteren Schicksal.

  6. Die Walküren (Altnordisch: Valkyrjur):

    • Bedeutung in der Mythologie: Weibliche Wesen, die im Dienste Odins stehen. Sie wählen auf Schlachtfeldern tapfere, gefallene Krieger aus und bringen sie nach Walhall (oder Folkvangr). Sie verkörpern Ruhm im Kampf und das Helden-Schicksal.

    • Rolle in der Saga: Erscheinen in der Vision in Alfheim, die Walhall zeigt. Sie repräsentieren den Pfad des kriegerischen Ruhms und des Helden-Schicksals, der dem Weg des Wanderers gegenübergestellt wird.

  7. Loki:

    • Bedeutung in der Mythologie: Ein Gott aus dem Geschlecht der Riesen (manchmal zu den Asen gezählt), bekannt für seine List, seinen Schalk, seine Verwandlungsfähigkeit und als Auslöser vieler Probleme, aber auch als Helfer der Götter. Vater von Hel, Fenrir und Jörmungandr. Eine zentrale Figur in Ragnarök. Er verkörpert Chaos und Veränderung.

    • Rolle in der Saga: Der Schattenmeister im Zwischenreich. Führt den Wanderer durch das Chaos zwischen den Welten. Konfrontiert ihn mit Illusion und der Unzuverlässigkeit der Realität. Seine Begegnung ist eine Prüfung des Verstehens jenseits der Oberfläche.

  8. Hel:

    • Bedeutung in der Mythologie: Herrscherin über das gleichnamige Totenreich Helheim. Tochter Lokis. Oft halb schön, halb leichnamhaft dargestellt. Empfängt alle Toten, die nicht im Kampf fielen. Repräsentiert die Endgültigkeit und die nüchterne Realität des Todes.

    • Rolle in der Saga: Die Herrscherin Helheims. Konfrontiert den Wanderer mit dem Reich der Toten und der Endgültigkeit des Lebens. Zeigt ihm das Ende (Ragnarök) im schwarzen Spiegel. Sie ist die Wächterin über den letzten Blick.

  9. Surtr:

    • Bedeutung in der Mythologie: Der Herrscher über Muspelheim und Anführer der Feuerriesen. Spielt eine entscheidende Rolle in Ragnarök, wo er mit seinem Schwert die Welt in Brand setzt. Repräsentiert die ungebändigte, zerstörerische Urkraft des Feuers.

    • Rolle in der Saga: Seine Präsenz dominiert Muspelheim. Obwohl nicht direkt getroffen, verkörpert er die zerstörerische Kraft, mit der sich der Wanderer konfrontiert sieht und die sich in ihm spiegelt. Seine Macht führt letztlich zur Zerstörung in Ragnarök.

  10. Fenrir und Jörmungandr:

    • Bedeutung in der Mythologie: Zwei der furchterregendsten Kinder Lokis. Fenrir ist der riesige Wolf, der gebunden wird, bis er sich zu Ragnarök losreißt und Odin tötet. Jörmungandr ist die Midgardschlange, die so groß ist, dass sie die Welt umspannt und in Ragnarök gegen Thor kämpft. Sie verkörpern unkontrollierbare Naturgewalten und die zerstörerischen Mächte, die das Ende herbeiführen.

    • Rolle in der Saga: Schlüsselfiguren in der Darstellung von Ragnarök im Spiegel des Wanderers. Sie repräsentieren die entfesselten Kräfte des Chaos und der Zerstörung, die zum kosmischen Untergang führen.

Diese Figuren sind mehr als nur Bewohner ihrer Welten; sie sind Kräfte, Herausforderungen und Spiegelbilder der Themen, mit denen sich der Wanderer auf seiner Reise konfrontiert sieht.

Ragnarök: Das Schicksal der Götter in der nordischen Mythologie

Ragnarök bezeichnet in der nordischen Mythologie eine Reihe von entscheidenden Ereignissen, die das Ende der Welt, wie die nordischen Vötter und Menschen sie kennen, einläuten. Es ist nicht einfach nur Zerstörung, sondern ein umfassendes Schicksal, das sowohl Untergang als auch Neuanfang beinhaltet.

Die Überlieferungen beschreiben eine gewaltige Schlacht, in der die Götter, angeführt von Odin, gegen ihre Erzfeinde antreten, darunter der Fenriswolf, die Midgardschlange und der Feuerriese Surt. Viele bekannte Gottheiten wie Odin, Thor, Freya und Tyr werden in diesem Kampf fallen.

Nach der Schlacht wird die Welt in Flammen aufgehen und im Meer versinken, nur um danach wieder aufzuerstehen. Aus den Trümmern entsteht eine neue, grünere Welt, und einige überlebende Götter sowie ein menschliches Paar werden eine neue Ära beginnen. Ragnarök ist somit ein Zyklus von Tod und Wiedergeburt, der die ewige Natur des Kosmos in der nordischen Vorstellung widerspiegelt.

© Gerd Groß 31.10.2022