Der Spiegel, der kein Ende kennt

Nordisch-mythologische Saga


Kapitel X – Helheim

Dies ist die zehnte Sang vom grauen Tor,
vom Schweigen, das spricht laut empor,
von Hel, die kühl die Toten zählt –
und Spiegelglas, das Schwarz erwählt.

Die Luft in Helheim war still, unbewegt, als würde sie keinen Atemzug mehr kennen. Keine Vögel sangen, keine Blätter rauschten. Selbst die Schatten schienen hier leblos zu sein, nur Konturen ohne Tiefe, eingefangen in diesem Zwischenzustand. Die Pfade waren aus einem Material, das sich unter seinen Füßen seltsam leblos anfühlte, als ginge er über verwehte Asche der Vergangenheit. Es war eine allegorische Konfrontation mit dem unvermeidlichen Ende, mit der Summe eines Lebens, das nicht nur aus Ruhm oder Kampf bestand, sondern auch aus stillen Tagen und unsichtbaren Enden. In dieser Stille schien seine eigene Präsenz lauter zu werden, als wäre er der einzige Widerhall.

Er spürte die Anwesenheit von Hel, noch bevor er sie sah. Eine Präsenz von unerschütterlicher Autorität und kühler Akzeptanz, die über diesem stillen Reich lag. Am Ende eines grauen Weges saß sie auf einem Thron, der aus Knochen und Trauer zu bestehen schien. Eine Hälfte ihres Antlitzes war von unheimlicher, lebendiger Schönheit, die andere Hälfte welk und tot, grünlich verfärbt – ein Spiegelbild der Dualität von Leben und Tod, die sie verkörperte und über die sie herrschte.

Hel blickte ihn an, und ihr Blick war ohne Wärme, aber voller uralter Erkenntnis, die in diesem Reich versammelt war. "Du suchst Wahrheit?", sagte ihre Stimme, die klang wie das Knirschen von Eis unter Druck und das Rascheln trockener Gräser im Wind. "Du bist weit gereist, Wanderer, hast Feuer und Eis, Licht und Schatten, List und Sehnsucht gesehen. Du hast die Muster des Schicksals erblickt und die leeren Stellen deines Verlangens. Du hast die Kälte aufgenommen und die Leere gespiegelt. Nun kommst du zu dem Ort, der das Ende spiegelt. Aber hast du das Ende gesehen? Das wahre Ende, das jeden erwartet, ob Held aus Walhall oder Namenloser aus Helheim?"

Der Wanderer hob den Spiegel. In Helheim hatte er seine endgültige Veränderung erfahren. Er war nicht mehr silbrig oder golden, nicht trüb oder klar, nicht chaotisch oder eisig. Er war nun tiefschwarz. Er reflektierte kein Licht mehr, zeigte keine Bilder der Welt oder seiner Seele im herkömmlichen Sinne. Er war ein Spiegel des Nichts, ein Fenster in die Leere, die am Ende aller Wege wartet. Es war, als würde er sich selbst darauf vorbereiten, das ultimative Ende zu spiegeln, und der Spiegel in seiner Hand nahm diese Bestimmung an.

"Dein Spiegel lügt hier nicht", sagte Hel, ihr Blick ruhte auf dem schwarzen Glas, als würde sie die Abwesenheit darin sehen. "Er zeigt, was am Ende bleibt. Und am Ende bleibt nur die letzte Reflexion." "Nichts. Oder alles, was war und nicht mehr ist."

Als der Wanderer in den schwarzen Spiegel blickte, sah er keine Gesichter der Vergangenheit mehr wie in Vanaheim oder Niflheim. Er sah… die Endgültigkeit. Nicht seinen eigenen Tod als Vision, sondern das Ende im kosmischen Sinne, den Abschluss aller Zyklen. Im schwarzen Glas formte sich das Bild von Ragnarök. Nicht als Schlacht in all ihren Details, sondern als das ultimative Schweigen, das nach dem Kampf kommt, die Verzehrung der Welten, das Erlöschen des Lichts. Es war eine Vorausschau, ja, aber es fühlte sich an wie eine Erinnerung an – die Erinnerung an etwas, das noch kommen musste, das Ende als Teil des Seins, immer schon präsent. Der schwarze Spiegel in Helheim zeigte ihm das Ende aller Dinge, die letzte Spiegelung vor dem Nichts. Und er spürte, dass seine Rolle als Spiegel hier in Helheim darin bestand, dieses unerträgliche Bild festzuhalten.

Ein tiefes Gewicht legte sich auf seine Seele, schwerer als jede Bürde zuvor. Hier in Helheim, konfrontiert mit der Herrscherin über die Toten und dem Spiegel des Endes, erkannte er die Endlichkeit aller Dinge, auch seiner eigenen Reise und der Welten selbst. Es war eine allegorische Prüfung seiner Akzeptanz. Kann er das Ende sehen und dennoch die Kraft finden, weiterzugehen, auch wenn der Weg hier endet und nur noch das letzte Kapitel wartet? Kann er die Last des Todes und des Verlustes tragen, die hier in Helheim versammelt waren?

Er fiel nicht auf die Knie. Er stand in der grauen Stille Helheims, der schwarze Spiegel schwer in seiner Hand. Er hatte das Ende gesehen. Er hatte die Leere betrachtet. Und er wusste nun, dass der Weg dorthin durch all die Welten geführt hatte, um ihn auf diesen letzten Blick vorzubereiten, auf das, was nach Helheim kommt. Er war bereit, der Spiegel des Endes zu sein.

Hel nickte langsam, ihre zwei Gesichter zeigten keine Emotion, nur Erkenntnis. "Geh nun, Wanderer. Du trägst das Ende in dir, so wie du das Licht und den Schatten, die Sehnsucht und die Leere trägst. Du bist vorbereitet. Der Weg führt dich zurück durch das Tor. Oder weiter. Das entscheidet der letzte Funke im Angesicht des Kommenden."

Sie verschwand nicht. Sie blieb sitzen, eine statische Gestalt im grauen Reich, die unzähligen, stillen Schatten der Toten um sie herum blieben unbewegt. Der Wanderer wandte sich ab und ging den Weg zurück, hinaus aus Helheim, durch das graue Tor.

Der schwarze Spiegel in seiner Hand war kalt und stumm. Er zeigte nichts als die Dunkelheit, die das Ende barg. Aber das Wissen darum und die Fähigkeit, es zu tragen, waren nun in ihm.

So endet die zehnte Sang.
In Helheims Grau, wo Schweigen weilt,
ein schwarzer Spiegel,
der enthüllt das Ende, das uns allen droht.
Ein schwerer Blick, der Kraft gebot.

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Die Neun Welten der Nordischen Mythologie

Im Zentrum der nordischen Kosmologie steht Yggdrasil, die Weltenesche, deren Wurzeln und Äste alle neun Welten miteinander verbinden. Jede Welt hat ihre eigene Natur, ihre eigenen Bewohner und ihre eigene Rolle im Gefüge des Kosmos.

  1. Asgard (Ásgarðr):

    • Beschreibung: Die strahlende Burg und Heimat der Asen, des jüngeren und mächtigeren Göttergeschlechts, regiert von Odin.

    • Bewohner: Die Asen (Götter wie Odin, Thor, Tyr) und die Einherjer (im Kampf gefallene Krieger in Walhall).

  2. Midgard (Miðgarðr):

    • Beschreibung: Die mittlere Welt, das Reich der Menschen, umgeben vom Ozean und durch die Regenbogenbrücke Bifröst mit Asgard verbunden.

    • Bewohner: Die Menschen.

  3. Jotunheim (Jötunheimr):

    • Beschreibung: Das raue, felsige und wilde Land der Riesen, gelegen außerhalb Midgards. Ein Ort der Urkräfte und des Chaos.

    • Bewohner: Die Jötnar (Riesen), darunter auch Frost- und Feuerriesen (obwohl letztere auch mit Muspelheim verbunden sind).

  4. Alfheim (Álfheimr):

    • Beschreibung: Das Reich der Lichtelfen, oft als Ort von großer Schönheit, Helligkeit und ätherischer Magie beschrieben. Manchmal Freyr zugeordnet.

    • Bewohner: Die Álfar (Lichtelfen).

  5. Svartalfheim (Svartálfaheimr):

    • Beschreibung: Die Welt unter der Erde, ein Reich der Dunkelheit, Höhlen und Minen. Bekannt für sein handwerkliches Geschick und seine verborgenen Schätze.

    • Bewohner: Die Svartálfar (Schwarzalben) und Zwerge (Dvergar).

  6. Muspelheim (Múspellsheimr):

    • Beschreibung: Das Reich des Urfeuers, ein Ort extremer Hitze, Glut und Zerstörung. Liegt im Süden des Kosmos.

    • Bewohner: Die Feuerriesen (Múspellsmegir), angeführt von Surtr.

  7. Niflheim (Niflheimr):

    • Beschreibung: Das Reich des Ur-Eises, des Nebels und der Dunkelheit. Liegt im Norden des Kosmos und ist ein Ort der unendlichen Kälte und Stasis. Oft mit Helheim verbunden.

    • Bewohner: Uralte Kräfte, Eisriesen (in manchen Überlieferungen), und es grenzt an Helheim.

  8. Helheim (Helheimr):

    • Beschreibung: Das Reich der Toten, die nicht im Kampf fielen. Ein grauer, kalter und lebloser Ort, gelegen in Niflheim oder darunter.

    • Bewohner: Die Heljar (die Toten) und die Herrscherin Hel.

  9. Vanaheim (Vanaheimr):

    • Beschreibung: Die Heimat der Wanen, eines älteren Göttergeschlechts, das mit Fruchtbarkeit, Weisheit und Voraussicht assoziiert wird.

    • Bewohner: Die Vanir (Götter wie Freyr, Freyja, Njörðr).

Diese neun Welten bilden zusammen das gesamte Universum in der nordischen Mythologie und sind durch Yggdrasil, die Weltenesche, miteinander verbunden.

Wichtige Mythologische Figuren und ihre Bedeutung in der Saga

Die Saga des Wanderers ist durchwoben von Begegnungen mit mächtigen Wesen aus der nordischen Mythologie, deren Rollen und Eigenschaften seine Reise prägen:

  1. Odin (Altnordisch: Óðinn):

    • Bedeutung in der Mythologie: Der Hauptgott der Asen, Gott der Weisheit, des Krieges, der Magie, der Dichtung und des Todes. Oft einäugig dargestellt (gab sein Auge für Weisheit). Vater vieler Götter. Wandert oft verkleidet durch die Welten.

    • Rolle in der Saga: Der erste göttliche Kontakt. Zeigt dem Wanderer seinen möglichen Weg und die Existenz der Welten durch die Schale. Ein weiser, aber rätselhafter Führer am Anfang.

  2. Gullveig:

    • Bedeutung in der Mythologie: Eine mysteriöse und vielschichtige Figur, oft mit Gold, Gier und Hexerei assoziiert. Ihre dreifache Tötung und Wiedergeburt durch die Asen wird als Auslöser des Krieges zwischen Asen und Wanen angesehen. Sie verkörpert Verführung und Zerstörung durch Begehren.

    • Rolle in der Saga: Die Nebelhexe im Zwischenreich (Grenze zu Jotunheim). Konfrontiert den Wanderer mit grundlegenden Fragen nach Identität, Furcht und Wunsch und bietet ihm symbolische Gaben/Wege an. Sie repräsentiert die Vielschichtigkeit der Existenz und die Gefahr des Verlangens.

  3. Vidar (Altnordisch: Víðarr):

    • Bedeutung in der Mythologie: Ein Sohn Odins, bekannt für seine Stille und Stärke. Er überlebt Ragnarök und rächt seinen Vater, indem er Fenrirs Kiefer zerbricht. Er repräsentiert standhafte Kraft und Überleben nach der Katastrophe.

    • Rolle in der Saga: Der stumme Gott in Midgard am Riss. Zeigt dem Wanderer die Rune des Wandels (Uruz) und den Riss im Gefüge der Welt. Seine stille Präsenz und sein Blick vermitteln tiefe, unausweichliche Wahrheiten und die Notwendigkeit, das Unbekannte zu durchschreiten.

  4. Die Nornen (Altnordisch: Nornir):

    • Bedeutung in der Mythologie: Schicksalsgöttinnen, die am Urdbrunnen am Fuße Yggdrasils leben. Sie spinnen, messen und schneiden die Lebensfäden aller Wesen, Götter und Menschen. Sie verkörpern das unveränderliche Schicksal (Örlög).

    • Rolle in der Saga: Eine vergessene Norne in Svartalfheim. Konfrontiert den Wanderer mit den Fäden seines eigenen Schicksals und zeigt ihm mögliche Zukunftspfade. Fordert einen Preis für die Möglichkeit, das Muster zu ändern, was seine Auseinandersetzung mit dem vorbestimmten Weg vertieft.

  5. Freya (Altnordisch: Freyja):

    • Bedeutung in der Mythologie: Eine der wichtigsten Göttinnen der Wanen (später bei den Asen lebend). Göttin der Liebe, Schönheit, Fruchtbarkeit, des Goldes, der Magie (Seidr) und auch des Krieges (empfängt die Hälfte der im Kampf Gefallenen in ihrem Saal Folkvangr).

    • Rolle in der Saga: Erscheint in der ersten Vision in Odins Schale und später in der Vision in Alfheim als Gestalt von Licht und Schönheit. Repräsentiert Hoffnung, einen neuen Weg und die Verlockung von Liebe oder einem anderen, vielleicht sanfteren Schicksal.

  6. Die Walküren (Altnordisch: Valkyrjur):

    • Bedeutung in der Mythologie: Weibliche Wesen, die im Dienste Odins stehen. Sie wählen auf Schlachtfeldern tapfere, gefallene Krieger aus und bringen sie nach Walhall (oder Folkvangr). Sie verkörpern Ruhm im Kampf und das Helden-Schicksal.

    • Rolle in der Saga: Erscheinen in der Vision in Alfheim, die Walhall zeigt. Sie repräsentieren den Pfad des kriegerischen Ruhms und des Helden-Schicksals, der dem Weg des Wanderers gegenübergestellt wird.

  7. Loki:

    • Bedeutung in der Mythologie: Ein Gott aus dem Geschlecht der Riesen (manchmal zu den Asen gezählt), bekannt für seine List, seinen Schalk, seine Verwandlungsfähigkeit und als Auslöser vieler Probleme, aber auch als Helfer der Götter. Vater von Hel, Fenrir und Jörmungandr. Eine zentrale Figur in Ragnarök. Er verkörpert Chaos und Veränderung.

    • Rolle in der Saga: Der Schattenmeister im Zwischenreich. Führt den Wanderer durch das Chaos zwischen den Welten. Konfrontiert ihn mit Illusion und der Unzuverlässigkeit der Realität. Seine Begegnung ist eine Prüfung des Verstehens jenseits der Oberfläche.

  8. Hel:

    • Bedeutung in der Mythologie: Herrscherin über das gleichnamige Totenreich Helheim. Tochter Lokis. Oft halb schön, halb leichnamhaft dargestellt. Empfängt alle Toten, die nicht im Kampf fielen. Repräsentiert die Endgültigkeit und die nüchterne Realität des Todes.

    • Rolle in der Saga: Die Herrscherin Helheims. Konfrontiert den Wanderer mit dem Reich der Toten und der Endgültigkeit des Lebens. Zeigt ihm das Ende (Ragnarök) im schwarzen Spiegel. Sie ist die Wächterin über den letzten Blick.

  9. Surtr:

    • Bedeutung in der Mythologie: Der Herrscher über Muspelheim und Anführer der Feuerriesen. Spielt eine entscheidende Rolle in Ragnarök, wo er mit seinem Schwert die Welt in Brand setzt. Repräsentiert die ungebändigte, zerstörerische Urkraft des Feuers.

    • Rolle in der Saga: Seine Präsenz dominiert Muspelheim. Obwohl nicht direkt getroffen, verkörpert er die zerstörerische Kraft, mit der sich der Wanderer konfrontiert sieht und die sich in ihm spiegelt. Seine Macht führt letztlich zur Zerstörung in Ragnarök.

  10. Fenrir und Jörmungandr:

    • Bedeutung in der Mythologie: Zwei der furchterregendsten Kinder Lokis. Fenrir ist der riesige Wolf, der gebunden wird, bis er sich zu Ragnarök losreißt und Odin tötet. Jörmungandr ist die Midgardschlange, die so groß ist, dass sie die Welt umspannt und in Ragnarök gegen Thor kämpft. Sie verkörpern unkontrollierbare Naturgewalten und die zerstörerischen Mächte, die das Ende herbeiführen.

    • Rolle in der Saga: Schlüsselfiguren in der Darstellung von Ragnarök im Spiegel des Wanderers. Sie repräsentieren die entfesselten Kräfte des Chaos und der Zerstörung, die zum kosmischen Untergang führen.

Diese Figuren sind mehr als nur Bewohner ihrer Welten; sie sind Kräfte, Herausforderungen und Spiegelbilder der Themen, mit denen sich der Wanderer auf seiner Reise konfrontiert sieht.

Ragnarök: Das Schicksal der Götter in der nordischen Mythologie

Ragnarök bezeichnet in der nordischen Mythologie eine Reihe von entscheidenden Ereignissen, die das Ende der Welt, wie die nordischen Vötter und Menschen sie kennen, einläuten. Es ist nicht einfach nur Zerstörung, sondern ein umfassendes Schicksal, das sowohl Untergang als auch Neuanfang beinhaltet.

Die Überlieferungen beschreiben eine gewaltige Schlacht, in der die Götter, angeführt von Odin, gegen ihre Erzfeinde antreten, darunter der Fenriswolf, die Midgardschlange und der Feuerriese Surt. Viele bekannte Gottheiten wie Odin, Thor, Freya und Tyr werden in diesem Kampf fallen.

Nach der Schlacht wird die Welt in Flammen aufgehen und im Meer versinken, nur um danach wieder aufzuerstehen. Aus den Trümmern entsteht eine neue, grünere Welt, und einige überlebende Götter sowie ein menschliches Paar werden eine neue Ära beginnen. Ragnarök ist somit ein Zyklus von Tod und Wiedergeburt, der die ewige Natur des Kosmos in der nordischen Vorstellung widerspiegelt.

© Gerd Groß 31.10.2022