Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 9
Die Stimmen der Vergangenheit
Hast du je den Morgen gespürt, wenn die Luft kalt und klar ist, und doch eine bleierne Schwere in sich trägt? So lag das Tal da, als Jonas, Leana und das Riesenmädchen die Nacht bei Lilith verbrachten. Tief verborgen lag ihre Hütte, umwunden von knorrigen Wurzeln und moosbedeckten Steinen – ein Ort, der älter schien als alle Worte.
Lilith sprach mit rauer Stimme, als erzähle sie uralte Geheimnisse:
"Die Riesen waren mehr als nur Gestalten von großer Statur. Sie waren Wächter des Gleichgewichts, Hüter der Grenzen zwischen den Welten. Doch als der Mensch kam, das Land schnitt und verbrannte, verblasste ihre Macht. Und die Strafe für diese Entfremdung war das Schweigen der Erde, das nun langsam bricht."
Spürst du die fremde Traurigkeit, die Leana ergriff, als sie fragte:
"Warum zogen sie sich zurück? Warum verschwanden sie?"
Lilith blickte fern in die Zeit, als könne sie durch die Schleier sehen:
"Weil der Mensch sich entfremdete. Weil Gier und Furcht die Herzen erfüllten. Doch wenn die Winde richtig stehen, sprechen die Steine, und die Schatten flüstern ihre Geschichten. Und diese Geschichten sind nicht immer tröstlich; sie können auch von Untergang künden."
Jonas sah auf seine Hände, vom kühlen Morgenlicht berührt, und fragte leise:
"Was können wir tun? Wie wird das Gleichgewicht wiedergefunden?"
Die Hüterin antwortete nur mit einem Rätsel:
"Der Schlüssel liegt im Herzen des Waldes, dort, wo das erste Licht die Erde küsst. Doch hüte dich – nicht alle, die nach dem Licht suchen, werden es finden. Manche verlieren sich in den Schatten, und diese Schatten werden sie für immer verschlingen und zu einem Teil ihrer Dunkelheit machen."
Und während sie sprachen, ertönte fern ein Grollen, als erwache die Erde selbst. Die Burg Nideck war mehr als Stein – sie war ein Brennpunkt eines uralten Streits zwischen alt und neu, der nun zu einer erzwungenen Entscheidung drängt, die nicht nur die Burg, sondern das gesamte Tal in ihren Bann ziehen wird.
"Die Vergangenheit lebt in jedem Stein, jeder Wurzel, jeder Geschichte," murmelte das Riesenmädchen, "und sie wird uns lehren, wie wir die Zukunft formen. Doch die Zeit dafür wird knapp."
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)