Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 3
Das Riesenmädchen erwacht
Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, als du Jonas auf seinem stillen Weg tiefer in den Wald folgst. Das Licht des Tages zerfließt langsam zu Gold und Schatten, und das Zwielicht beginnt, seine eigenen Geschichten zu erzählen – flüsternd, flirrend, zwischen Stamm und Blatt.
Jonas' Schritte verlangsamen sich, fast so, als lausche er auf etwas, das nicht mit dem Ohr zu hören ist. Dann bleibt er stehen.
Vor ihm öffnet sich eine Lichtung, kreisrund und umgeben von uralten Eichen, deren Wurzeln sich wie wachsame Arme ins Erdreich klammern. Die Stille hier ist nicht leer – sie ist wach. Und in ihrer Mitte liegt etwas Großes. Etwas, das mehr ist als nur ein Teil des Waldes. Es ist eine Präsenz, die schwer in der Luft liegt und das Atmen erschwert.
Jonas tritt näher, vorsichtig, ehrfürchtig, wie ein Pilger an eine heilige Stätte. Da sieht er sie:
Ein Riesenmädchen, halb im weichen Moos gebettet, als habe der Wald sie selbst umarmt. Ihr Haar ergießt sich wie ein goldener Wasserfall über das grüne Kissen, schimmernd wie Bernstein im letzten Licht.
Ihr Atem geht sanft, kaum sichtbar – und doch spürt Jonas, dass dies kein gewöhnlicher Schlaf ist. Es ist ein Warten. Ein Lauschen aus einer anderen Zeit. Ein Warten, das nun ein Ende gefunden hat und dessen Echo durch die Wälder hallen wird, vielleicht sogar bis zu jenen, die es am meisten fürchten.
Dann, ohne Vorwarnung, öffnen sich ihre Augen. Tiefblau wie ein stiller See bei Mondlicht – und voller Alter, das nicht zählt in Jahren, sondern in Jahresringen und vergessenen Liedern.
"Du bist anders", flüstert sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch im raschelnden Laub. "Nicht wie die Menschen, die ich einst kannte. Du kannst hören, was die Bäume erzählen."
Jonas sagt nichts. Er weiß, dass Worte hier nicht genügen. Stattdessen senkt er den Blick, und doch ist da zwischen ihnen etwas entstanden – ein Band, das nicht geschmiedet, sondern erwacht ist.
Du spürst es auch, nicht wahr? Dieses zarte, unsichtbare Leuchten, das wie Morgentau zwischen ihnen liegt.
Sie ist nicht nur ein Geschöpf aus alten Sagen – sie ist das Herz des Waldes selbst.
Und nun hat es begonnen zu schlagen. Ein Herz, das nicht nur Leben, sondern auch alte Konflikte und eine drohende Veränderung weckt.
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)