Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 29
Die Rückkehr der Stimmen
Die Welt hatte sich verändert, leise, kaum merklich – und doch spürbar in jedem Blatt, in jedem Tropfen Wasser, in jedem Atemzug, den Jonas und Leana nun taten. Der Himmel über der Burg Nideck spannte sich klar wie ein Versprechen, und das Echo des Riesenklangs hallte noch in ihren Herzen wider. Doch dieses Echo trug auch eine schwere Verantwortung in sich, die sie nicht abschütteln konnten.
Auf dem Rückweg durch den Wald begegnete ihnen eine Stille, die nicht leer, sondern wach war – wie ein tiefer Schlaf, aus dem etwas Kostbares gerade eben erwachte.
"Glaubst du, sie werden wiederkommen?", fragte Leana leise, als sie an einer uralten Eiche innehielten, deren Rinde vom Licht durchzogen schien.
Jonas legte die Hand an den Stamm. "Sie sind nie ganz fort gewesen. Wir haben nur verlernt, sie zu hören."
Und in diesem Moment veränderte sich die Luft. Ein leises Summen erhob sich aus dem Boden. Erst wie das Zirpen von Grillen, dann wie Flüstern in einer alten Sprache. Die Stimmen der Riesen, der Geister, der Bäume – sie erwachten wieder. Nicht laut, nicht überwältigend, sondern zärtlich, tastend. Als wollten sie prüfen, ob sie wirklich gehört werden durften. Leana spürte, wie das Amulett an ihrem Hals wärmer wurde, ein pulsierendes Echo der erwachenden Stimmen, das ihr Mut zusprach, aber auch die Dringlichkeit ihrer Mission unterstrich.
Sie folgten dem Pfad, der sich nun in warmem Gold unter ihren Füßen ausbreitete. Blumen, die lange nicht mehr geblüht hatten, reckten ihre Köpfe aus dem Boden. Tiere, sonst scheu und flüchtig, traten aus den Schatten und sahen ihnen nach – nicht aus Angst, sondern in Anerkennung.
Dann kamen sie an das Dorf zurück. Doch es war nicht mehr so, wie sie es verlassen hatten. Die Luft war reiner. Der Fluss war klar. Und aus der Ferne hörte man Kinderlachen, das zwischen den alten Mauern der Burg widerhallte, als hätte sich selbst die Zeit verneigt. Die Menschen, verwundert über den Wandel, hatten begonnen, innezuhalten. Nicht alle verstanden, doch viele spürten. Jonas sah jedoch auch, wie einige Dorfbewohner misstrauisch die Köpfe schüttelten, ihre Augen voller Argwohn. Die alte Welt gab ihre Gier nicht so leicht auf.
Leana trat auf den Dorfplatz. Sie sprach nicht viel – sie sang. Ein altes Lied, das sie nie gelernt und doch immer gewusst hatte. Ihre Stimme war wie Wasser und Licht, wie Moos unter nackten Füßen, wie Erinnerung und Neubeginn zugleich. Und während sie sang, öffneten sich Türen, Fenster, Herzen. Jonas stand still, die Hand auf seiner Brust, wo das Zeichen der Riesen – kaum sichtbar – nun leicht zu leuchten begann. Die Geschichte, die sie mitgebracht hatten, war kein Märchen, das man liest und vergisst. Es war ein Funke. Ein Anfang. Ein Ruf. Und im Schatten der Burg Nideck, wo einst Stein zu Stille wurde, lebte nun ein neues Lied – gewebt aus alter Macht, neuer Hoffnung und dem Wissen, dass alles verbunden ist. Doch dieses Lied war auch eine Herausforderung, ein Aufruf zum Handeln, denn die alte Gier des Menschen schlummerte nur, bereit, wieder aufzubegehren.
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)