Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 27
Die Rückkehr der Alten Stimme
Die Nacht war hereingebrochen, als Jonas und Leana den Pfad aus dem Tal der Elemente verließen. Die Sterne standen wie stille Wächter über dem Land, und ein leiser Wind strich durch das Laub, als flüstere er uralte Erinnerungen. Tief in ihrem Innersten wussten sie: Etwas hatte sich verändert. Die Natur hatte sie angenommen – doch zugleich auch gewarnt. Die Luft war erfüllt von einer feinen Schwingung, als würde die ganze Welt einem Ruf lauschen, der ihnen die Knochen bis ins Mark erschütterte.
Als sie die Lichtung erreichten, auf der einst das Riesenspielzeug gelegen hatte, fanden sie dort nichts als Abdrucke im Boden, moosbedeckt, als hätte der Wald selbst die Spuren der Geschichte wieder verschluckt. Zwischen den knorrigen Wurzeln des alten Baumes, wo einst der Riese geruht hatte, lag etwas Unerwartetes: ein glatter, runder Stein, umhüllt von einem matten, silbrigen Schimmer.
Leana hob ihn vorsichtig auf. In diesem Moment vibrierte die Luft – nicht laut, nicht beängstigend, sondern wie das Erwachen eines lange vergessenen Traumes. Der Stein begann sanft zu leuchten, und aus seinem Inneren erklang eine Stimme, tief und weise, als spräche ein Wesen, das durch Jahrtausende geschwiegen hatte: Doch in ihrer Weisheit lag auch die kalte Bitterkeit ungesühnten Unrechts.
"Ihr habt den Pfad der Hüter beschritten. Ihr habt das Herz des Waldes berührt, die Sprache der Elemente vernommen. Nun sollt ihr hören, was lange verborgen blieb."
Um sie herum begann sich der Wald zu wandeln – Schatten nahmen Gestalt an, formten Bilder, so alt wie die Erde selbst. Sie sahen die Riesen, wie sie durch das Land schritten, Berge formten, Flüsse lenkten und Wälder atmen ließen. Dann kamen Menschen – mit Werkzeugen, mit Feuer, mit Gier. Jonas spürte einen Stich in der Brust, als die Bilder von brennenden Wäldern und verstümmelten Bäumen vor seinem inneren Auge aufstiegen. Es war der Schmerz der Erde selbst.
Ein junges Riesenmädchen, das einst sein Spielzeug verloren hatte, erschien ihnen – nicht als fleischliche Gestalt, sondern aus Licht und Erinnerung. Sanft beugte sie sich zu einem Bauernkind, das ihr Spielzeug forttrug – eine Geste voller kindlicher Neugier, die zum Missverständnis wurde. Die Menschen begannen zu bauen, zu zerstören, zu vergessen. Die Stimme im Stein seufzte, ein Klang, der wie ein alter Wind durch Jonas' Seele wehte.
"Das war der erste Bruch," sprach die Stimme aus dem Stein. "Nicht aus Bosheit geboren, sondern aus Unwissenheit. Doch Unwissenheit bringt Trennung. Und Trennung gebiert Schmerz."
Jonas sah Leana an. Die Bilder verblassten, doch die Bedeutung blieb wie ein Echo in der Luft.
"Was ist das für eine Stimme?", fragte er leise.
Leana hielt den Stein an ihr Herz. "Es ist die Stimme der Alten. Der erste Riese. Oder vielleicht… die Stimme der Erde selbst."
Die Stimme sprach noch einmal, nun leiser, doch eindringlicher: "Die Zeit naht, da sich alles wendet. Die Riesen schlafen nicht ewig. Die Menschen erinnern sich. Und ihr… ihr seid der Ruf dazwischen. Der Ruf, der das Blut der Vergangenheit reinwaschen kann… oder der es für immer auf diese Erde bindet."
Dann erlosch das Licht des Steins. Stille kehrte ein, nur das Rauschen der Bäume und das Flüstern des Windes blieben – als hätte der Wald ihnen ein uraltes Lied anvertraut.
Leana schloss die Augen. "Wir sind nicht nur Teil der Geschichte. Wir sind ihr neues Kapitel." Ihre Stimme war fest, doch Jonas spürte ihren inneren Kampf mit der gewaltigen Last, die sie nun trugen.
Jonas nickte. Und in diesem Moment wussten sie: Der Weg war noch nicht zu Ende. Doch sie hatten die Wahrheit gehört – und das genügte für einen Schritt weiter.
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)