Was zählt
Was zählt?
Was zählt im Leben?
Wer zählt es?
Ist es das große Etwas,
nicht zu übersehen,
Aufmerksamkeit einfangen?
Oder das Kleine?
Kaum bemerkt,
sich verbergen.
Wie zählt Zeit?
Wie vergeht sie?
Der kurze Augenblick.
Lang ersehnt,
schon vorbei.
Der nicht enden wollende Moment.
Laut Uhr nur kurz,
gefühlt unendlich.
Die lange Zeitspanne.
Dauerte ewig,
rückblickend nichts.
Ein ganzes Leben.
Lang oder kurz,
immer schnell verlebt.
Was ist wichtig?
Was nicht?
Schöne Augenblicke.
Ausgekostet bis zuletzt,
trotzdem nie genug.
Dunkle Stunden.
Nicht gewollt,
verbleiben lange.
Warum?
Die Realität.
So unterschiedlich
vom Empfundenen.
Was zählt?
© Gerd Groß 23.05.2002
Ein weiteres nachdenkliches und tiefgründiges Gedicht von Schriftsteller Gerd Groß! Es kreist auf sehr eindringliche Weise um die Frage nach Bedeutung, Wahrnehmung und der flüchtigen Natur der Zeit.
Interpretation:
Das Gedicht ist eine philosophische Reflexion über das, was im Leben wirklich zählt und wie wir die Zeit erleben. Es stellt scheinbare Gegensätze gegenüber und lädt den Leser ein, über seine eigenen Prioritäten und Erfahrungen nachzudenken.
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Die Frage nach dem Zählbaren: Die anfänglichen Fragen "Was zählt? Was zählt im Leben? Wer zählt es?" werfen die grundlegende Problematik auf, ob es überhaupt eine objektive Messgröße für die Bedeutung von Dingen und Erfahrungen gibt. Die Wiederholung unterstreicht die Unsicherheit und die subjektive Natur dieser Frage.
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Das Große und das Kleine: Hier wird ein Kontrast zwischen dem Offensichtlichen und dem Unscheinbaren aufgemacht. Ist es das Spektakuläre, das Aufmerksamkeit erregt, was wirklich zählt, oder sind es die leisen, oft übersehenen Momente? Diese Gegenüberstellung fordert uns auf, unseren Blickwinkel zu erweitern und auch dem Kleinen Wert beizumessen.
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Die Paradoxie der Zeit: Die folgenden Strophen widmen sich der subjektiven Wahrnehmung von Zeit. Es wird deutlich, dass die chronologische Zeit (die Uhr) oft nicht mit unserem emotionalen Erleben übereinstimmt:
- Der "kurze Augenblick", lang ersehnt, ist viel zu schnell vorbei.
- Der "nicht enden wollende Moment", objektiv kurz, wird subjektiv als unendlich empfunden, oft in unangenehmen Situationen.
- Die "lange Zeitspanne", die sich ewig anfühlte, erscheint im Rückblick kurz.
- Ein "ganzes Leben" wird als entweder lang oder kurz empfunden, ist aber in der Summe immer "schnell verlebt".
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Die Dualität der Erfahrungen: Die Frage "Was ist wichtig? Was nicht?" führt zu einer Gegenüberstellung von "schönen Augenblicken" und "dunklen Stunden". Die schönen Momente, obwohl intensiv erlebt, scheinen nie auszureichen, während die ungewollten, dunklen Stunden quälend lange verweilen.
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Die Diskrepanz zwischen Realität und Empfinden: Die abschließende Feststellung, dass die "Realität" oft so unterschiedlich vom "Empfundenen" ist, fasst die vorherigen Beobachtungen zusammen. Unsere subjektive Wahrnehmung prägt maßgeblich, wie wir die Welt und die Zeit erleben.
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Die wiederholte Frage: Das Gedicht endet mit der erneut gestellten Frage "Was zählt?", die nun noch dringlicher und offener im Raum steht. Es gibt keine einfache Antwort, und jeder Leser ist aufgefordert, seine eigene Antwort zu finden.
Bewertung:
Das Gedicht ist eine beeindruckende lyrische Meditation über die Flüchtigkeit des Lebens und die Subjektivität unserer Wahrnehmung. Die klaren, prägnanten Verse und die wiederholenden Fragen erzeugen eine eindringliche Wirkung. Die Gegenüberstellung von "groß" und "klein", "kurz" und "lang", "schön" und "dunkel" verdeutlicht die Komplexität unserer Erfahrungen.
Besonders stark ist die Auseinandersetzung mit der Zeit, die als etwas Fließendes und Relatives dargestellt wird, das sich unserer objektiven Messung oft entzieht. Die Erkenntnis, dass unsere Gefühle die Zeitwahrnehmung stark beeinflussen, ist eine tiefgründige Beobachtung.
Das offene Ende mit der wiederholten Frage regt zum Nachdenken an und vermeidet eine einfache Antwort. Es unterstreicht, dass die Frage nach dem, was wirklich zählt, eine zutiefst persönliche und fortwährende Auseinandersetzung ist.
© Gemini