Der Junge von Nebenan

Kapitel 8: Die neue Disziplin


Der Anblick der Trainingshalle ließ Leo nicht mehr los.
Selbst während er Herrn Weber beim Schach Figuren zureichte oder einen Rollstuhl durch die Flure des Seniorenheims schob, schweiften seine Gedanken immer wieder ab – zu den schnellen, kontrollierten Bewegungen jener Sportler.
Etwas daran faszinierte ihn, etwas, das sich leise in seinen Kopf schlich und nicht mehr gehen wollte.
Es war eine Ordnung, die seinem Leben vollkommen fremd war. Keine Chaos-Show, kein lautes Muskelspiel, sondern stille Kraft. Selbstbeherrschung. Präzision.

Herr Weber hatte es bemerkt.
"Du bist abwesend mit den Augen", sagte er einmal beiläufig, ohne aufzublicken.
Leo hatte nichts geantwortet, aber ein Schatten von einem Lächeln huschte über Webers Gesicht.
"Manchmal", sagte der alte Mann, "sucht der Körper etwas, bevor der Kopf es weiß."

Eines Nachmittags, nach seiner täglichen Meldung auf dem Revier – diesem nüchternen Ritual, das sich wie ein Stempel auf seine Stirn drückte –, bog Leo plötzlich vom gewohnten Weg ab.
Er folgte keinem Plan, eher einem Drang, der tief aus seinem Inneren kam.
Seine Füße führten ihn zurück zur Halle.

Er stellte sich an die Wand aus altem Kopfstein, kühl und rau, und spähte durch die offene Tür.
Das Training lief. Wieder diese fließenden Bewegungen, diese explosionsartigen Schläge, die doch nie wild wirkten.
Leo beobachtete, wie Körper sich mit einer Art synchronem Individualismus bewegten – verbunden durch Atmung, Haltung und Rhythmus.
Und da war dieses Schweigen. Kein Angeben. Keine Provokation. Nur Respekt.
Nicht wie in seiner Gang, wo alles auf Dominanz beruhte – wer stark war, bestimmte.
Hier war es anders.
Stiller. Echter.

"Na, zugucken verboten?"
Die Stimme kam unerwartet. Tief. Ruhig.
Leo fuhr zusammen. Ein Mann stand neben ihm.
Athletisch, vielleicht Ende zwanzig. Kurzes Haar. Dunkle Augen, die prüften, ohne zu verurteilen.
Er trug einen Trainingsanzug, schlicht, aber sauber – und strahlte eine Gelassenheit aus, die sofort Respekt einflößte.
Nicht laut. Nicht fordernd. Einfach da.
Leo wusste sofort: Das war der Trainer.

Er stammelte etwas, verlegen, die Hitze stieg ihm ins Gesicht.
"Interessant, oder?" Der Mann lächelte.
"Das ist Kenshin-Ryu. Eine Kampfkunst, aber mehr als das. Es geht nicht nur um Schlagen. Es geht um Fokus. Um Disziplin. Die Koordination deiner Selbst. Harmonie von Körper und Geist."

Leo runzelte die Stirn. Disziplin? Das klang nach Schule. Nach starren Regeln, gegen die er sich ein Leben lang gewehrt hatte.
Und doch …
Etwas an der Stimme des Mannes ließ ihn nicht los. Es war keine Belehrung, keine Forderung, sondern eine Einladung – leise, aber bestimmt. Wie ein Rätsel, das es zu lösen galt.

"Kostet Geld", murmelte Leo schließlich.
Ein Reflex. Eine Ausrede.
Er wollte sich zurückziehen. Einfach verschwinden.
Noch hatte er nichts verloren.

Der Mann grinste. Ein ehrliches, entspanntes Grinsen.
"Klar kostet es Geld. Wer was lernen will, muss was geben. Aber manchmal … gibt's Wege. Wenn der Wille da ist."
Er reichte Leo eine Visitenkarte.
Schlicht. Weiß.
Der Name: David Schreiber – Kenshin-Ryu, Trainer.

Seine Stimme war ruhig, sein Blick wach. Es war nicht das Grinsen eines Verkäufers, sondern das prüfende Lächeln eines Mannes, der viele kommen und viele gehen gesehen hatte.
"Ich war mal wie du", sagte er schließlich.
"Hab Dinge gesucht, die man nicht kaufen kann – Respekt, Kontrolle, Richtung.
Dann hab ich begriffen: Ich muss mich selbst trainieren, nicht die Welt."

"Wenn du wirklich wissen willst, wie du dich selbst findest, dann komm vorbei. Probetraining ist kostenlos."
Er zwinkerte.
"Und ich sehe: Du hast das Zeug dazu."

Leo starrte auf die Karte.
David hatte kaum zwei Sätze mit ihm gesprochen – und doch sah er etwas in ihm.
Etwas, das Leo selbst nicht benennen konnte.
Nur Herr Weber hatte ihn je auf diese Weise angeschaut.
Er steckte die Karte ein.
Sie wog mehr, als sie sollte.
Kein Blech, kein Gold – aber doch ein Versprechen.
Oder eine Drohung.

Später fragte Sarah ihn, als sie gemeinsam im Flur eine Schale mit Obst trugen:
"Du wirkst … ruhiger. Was ist los?"
Leo zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht … überleg ich was Neues."
Sarah grinste.
"Dann mach's richtig. Kein halber Kram. Kein halber Leo."
Er nickte – langsam.

Die nächsten Tage waren ein innerer Krieg.
Die Gang funkte.
Chiko rief. Alte Muster zogen.
Das vertraute Gefühl des schnellen Kicks lauerte überall – wie ein Schatten, der bei jedem Sonnenstrahl zurückkroch und im Dunkeln wiederkam.
Aber Davids Worte …
Und Webers ruhige Gedanken …
Sie waren da.
Nicht laut.
Aber wach.

Langsam – fast unmerklich – begann Leo zu verstehen:
Es ging nicht darum, andere zu überlisten.
Sondern sich selbst.
Nicht darum, sich durchzusetzen.
Sondern sich zu kontrollieren.

Fokus.
Koordination.
Selbstbeherrschung.
Begriffe, die einmal wie Fesseln klangen, begannen eine andere Bedeutung zu bekommen.
Nicht wie Ketten.
Eher wie ein Werkzeug, um sich selbst neu zusammenzusetzen.

Dann kam jener Abend.
Ein Streit im Seniorenheim, ein Wort zu viel, ein Stoß mit der Schulter gegen die jüngere Pflegerin – beinahe wäre er explodiert.
Der alte Leo war noch da.
Knurrend, kratzend, wild.
Aber er hatte ihn zurückgehalten. Nur knapp.

Noch am selben Abend stand Leo wieder vor der Turnhalle.
Draußen war es kühl. Der Wind spielte mit seinem Haar.
Er schloss kurz die Augen.
Zog die Jacke enger.
Atmete tief durch.

Diesmal blieb er nicht draußen.
Er erinnerte sich an Davids Blick – fest, aber nicht hart. Wie jemand, der wartete, ohne zu drängen.
Er legte die Hand auf die Klinke.
Und trat ein.