Der Junge von Nebenan
Kapitel 6: Echo aus der Tiefe
Die Besuche in Herrn Webers Zimmer wurden für Leo zu einem festen Bestandteil seines Tagesablaufs, fast so selbstverständlich wie das Zähneputzen, nur mit einer Tiefe, die er nicht kannte. Die tägliche Meldung auf dem Polizeirevier blieb eine erzwungene Pflicht, ein mechanisches Abhaken auf einer Checkliste – doch diese Gespräche waren anders: seltsam, aber willkommen. Eine seltsame Art von Zuhause.
Herr Weber erzählte weiter aus seinem Leben, oft mit einer Prise feinen Humors, der Leo manchmal ein unfreiwilliges Schmunzeln abrang – ein kurzes, flüchtiges Zucken um die Mundwinkel, das er sofort wieder zu unterdrücken versuchte, weil es sich so ungewohnt anfühlte.
Manchmal schien es, als würde Herr Weber genau wissen, wann Leo bereit war, etwas zu hören – als hätte er ein unsichtbares Gespür für die Risse in der Fassade des Jungen.
Er sprach vom Krieg und der Nachkriegszeit, von Entbehrung, aber auch vom Wiederaufbau, von der Disziplin im Handwerk und der stillen Freude an getaner Arbeit, die er mit leuchtenden Augen beschrieb.
"Weißt du, Leo", sagte Herr Weber eines Tages, während Leo widerwillig die kleinen Porzellanfiguren auf dem Fenstersims abstaubte, die wie eingefrorene Erinnerungen an eine andere Zeit wirkten,
"ein Haus baust du Stein für Stein. Und ein Leben auch. Jeder Stein zählt. Jeder Fehler, aber auch jede gute Tat."
Dann lächelte er versonnen und streichelte eine der Figuren mit der Fingerspitze – ein alter Handwerkerstolz, fast zärtlich. "Diese hier hab ich auf dem Trödel gefunden, 1967. Das war nach einer langen Woche auf der Baustelle. Ich war so müde, aber sie hat mich angelächelt."
Leo hörte zu, während seine Hände mechanisch arbeiteten. Ein kühler Gedanke schlich sich in seinen Kopf: Wie viele falsche Steine hatte er schon gesetzt? War sein Haus schon zu schief, um es noch zu retten?
Er hatte nie so über sein Leben nachgedacht. Für ihn war es ein Wirrwarr aus Zufällen und Gelegenheiten, das er eben nutzte.
"Manchmal", fuhr Herr Weber fort, seine Augen wurden weicher,
"habe ich das Gefühl, du bist wie ich damals. Viel zu viel im Kopf, aber keine Ahnung, wohin damit. Ich hab meine Energie ins Schrauben gesteckt. Du steckst sie… in andere Dinge."
Der alte Mann sprach es nicht aus – aber Leo verstand.
Er meinte die digitale Welt, die Betrügereien, die schnellen Tricks, die Leo wie ein Jongleur beherrschte.
Und er meinte es ohne Groll. Nicht wie die Lehrer oder Polizisten, sondern wie jemand, der den Kern sah – nicht nur die Oberfläche.
Rückblende: Leo war dreizehn, ein paar Monate vor der Sache mit der Konsole.
Er saß in seinem Zimmer, das Laptop auf den Knien, das Display leuchtete gespenstisch im Halbdunkel.
Er hatte eine Sicherheitslücke in einem Online-Shop entdeckt. Ein paar Klicks – und er hätte Dutzende Produkte für fast nichts bestellen können.
Chiko und Hassan jubelten durchs Headset, als er es ihnen zeigte.
"Du bist der Beste, Leo! Ein Genie!"
Es war ein Rausch. Das Gefühl von Macht, Intelligenz, Überlegenheit. Das Adrenalin pumpte heiß und schnell durch seine Adern.
Aber da war auch ein leiser Zweifel, ein dumpfes Stechen im Magen. War das wirklich alles, was sein Verstand konnte?
War das der Gipfel seines Könnens?
"Deine Augen, Leo", sagte Herr Weber plötzlich und riss ihn aus der Rückblende,
"die sind nicht leer. Da ist Neugier drin. Und da ist… Sehnsucht. Wonach sehnst du dich, mein Junge?"
Leo zuckte zusammen. Ein kalter Stich fuhr ihm durch die Brust, seine Augen brannten, als müsste er Tränen zurückhalten.
Sehnsucht? Er hatte sich nie erlaubt, so etwas zu fühlen. Das war gefährlich.
Sehnsucht bedeutete, etwas zu wollen, was man nicht hatte. Und das endete immer im Schmerz.
So wie bei seiner Mutter, wenn sie wieder hinter ihrer Müdigkeit verschwand.
Er dachte an Frau Wagner – seine Betreuerin, die ihn mit einer Mischung aus Strenge und müder Fürsorge durch die Amtsgänge schleuste. Sie war nicht herzlos. Aber ihr Blick war oft so, als hätte sie Leo längst abgeheftet. Nur Herr Weber sah ihn noch als jemand, der werden konnte – nicht nur als jemand, der war.
Doch die Frage blieb im Raum – wie ein Tropfen auf heißem Stein. Und sie löste etwas aus. Etwas Altes. Etwas Wahres.
Er begann zu reden. Wirklich zu reden.
Nicht über seine Gang, nicht über seine Coups.
Sondern über die Leere zu Hause.
Über die Müdigkeit seiner Mutter, die sie unerreichbar machte, wie ein Schiff, das im Nebel verschwand.
Über die erdrückende Stille im Zimmer, wenn er allein war – ein Echo der Abwesenheit, das ihn seit seiner Kindheit begleitete.
Er sprach nicht von seinem Vater, aber seine Worte zeichneten das Bild eines fehlenden Mannes. Ein Loch in der Form von Halt.
Herr Weber hörte einfach zu. Er sprach nicht dazwischen. Bewertete nichts. Er war einfach da – wie ein Anker in einem Sturm.
Diese Gespräche wurden zu einer Art Therapie für Leo. Herr Weber erzählte nicht nur, er fragte auch.
Er forderte Leo auf, über seine Gefühle zu sprechen – über Wut, Enttäuschung, Einsamkeit.
Und der alte Mann hatte die Gabe, das Unsagbare zu erahnen.
Er hörte, was Leo verschwieg.
An einem dieser Tage kam Sarah kurz vorbei. Sie brachte Herrn Weber etwas Gebäck, das ihre Mutter gebacken hatte – still, verlegen, fast flüchtig. Als sie Leo sah, senkte sie den Blick, doch ihre Wangen röteten sich leicht.
"Hi", murmelte sie nur, dann war sie schon wieder weg.
Herr Weber lächelte Leo an, als die Tür ins Schloss fiel.
"Manche Mädchen sprechen durch Gesten", sagte er,
"und manche Jungen verstehen sie erst, wenn es zu spät ist."
Leo verstand nicht ganz – aber das Kribbeln blieb.
Eines Tages, während sie Schach spielten – ein Spiel, das Herr Weber ihm beigebracht hatte und bei dem Leo zu seiner eigenen Überraschung gar nicht schlecht war –,
entdeckte Leo eine fast unschlagbare Kombination. Herr Weber sah ihn an, die Augen leuchteten.
"Was würdest du tun, Leo", fragte er,
"wenn du dir aussuchen könntest, wer du bist? Wenn niemand auf dich einredet, kein Druck, keine Angst. Nur du. Was würdest du sein?"
Leo zögerte.
Er hatte sich diese Frage nie gestellt.
Er hatte immer nur funktioniert. Immer nur die nächste Gelegenheit gesucht.
Doch jetzt, da sie offen vor ihm lag, sah er plötzlich – nichts.
Keine Zukunft. Nur eine Wiederholung des Immergleichen.
"Ich… ich weiß nicht", murmelte Leo. Seine Stimme war klein. Verloren.
Herr Weber nickte langsam.
"Das ist der Anfang, mein Junge. Der Moment, in dem du aufhörst zu rennen – und anfängst zu fragen.
Und wenn du die richtigen Fragen stellst, findest du vielleicht auch die Antworten."
Leo dachte an Frau Wagner, die ihm vor einer Woche gesagt hatte:
"Du bist nicht dumm, Leo. Aber du entscheidest dich immer für den einfachsten Weg. Warum nicht mal den schwierigeren probieren?"
Damals hatte er nur geschnaubt. Jetzt klangen die Worte nach.
An diesem Abend, als Leo seine Meldung auf dem Polizeirevier machte, sah er den Polizisten mit anderen Augen an.
Nicht nur als Aufpasser.
Sondern als Mensch.
Jemand, der auch nur sein Leben lebt, seinen Dienst tut, Teil eines großen Getriebes.
Und als Leo durch die grauen Straßen zurücklief, die Lichter der Stadt über ihm,
kam ein Gedanke, der sich nicht mehr abschütteln ließ:
Was, wenn es wirklich einen anderen Weg gäbe?
Einen, den er selbst wählen könnte?
Was, wenn die Antwort nicht auf der Straße lag – sondern tief in ihm?
Der harte Asphalt unter seinen Füßen schien plötzlich weicher.
Der Weg vor ihm: nicht klar, nicht einfach.
Aber auch nicht länger eine Sackgasse.
Vielleicht – nur vielleicht – war es der Anfang.