Der Junge von Nebenan

Kapitel 5: Die Berührung der Seele


Leos Herz raste – ein panisches Hämmern gegen die Rippen. Nicht von einer Pflegekraft ertappt, nicht von Frau Wagner. Sondern ausgerechnet von einem der "Alten", über die er so oft gelacht hatte.

Seine Hand klammerte sich krampfhaft um die Münze in seiner Hosentasche, die sich plötzlich wie ein glühendes Brandzeichen in seine Haut brannte. Er bereitete sich auf einen Schwall von Vorwürfen vor, auf die übliche Predigt über Ehrlichkeit und Anstand, die er schon tausendmal gehört und genauso oft abgeblockt hatte.

Aber nichts dergleichen kam.

Herr Weber, der alte Mann mit den wachen Augen, die jetzt auf ihn gerichtet waren, sagte nichts weiter. Er hob lediglich eine faltige Hand und zeigte mit einem zitternden Finger auf Leos Hosentasche. In seinem Blick: kein Zorn, keine Enttäuschung – nur eine seltsame, fast bodenlose Traurigkeit, die Leo frösteln ließ. Es war ein Blick, der Leo bis ins Mark traf, weil er keine Verurteilung enthielt – sondern etwas viel Schlimmeres: Verständnis. Es war, als würde der Alte direkt in seine Seele blicken. Ein beinahe unerträgliches Gefühl der Nacktheit überkam ihn, und ein Brennen stieg ihm in die Augen.

Leo zog die Hand mit der Münze langsam und widerwillig aus der Tasche. Sie war kühl und glatt, doch plötzlich schien sie zu brennen – schwerer als jeder Schein, den er je eingesteckt hatte. Er hielt sie Herrn Weber hin, seine Lippen formten sich zu einem Wort, das er nicht aussprechen konnte – eine Entschuldigung, die ihm die Kehle zuschnürte.

"Die ist nicht für dich, Junge." Herr Webers Stimme war alt und brüchig – aber so klar wie ein Glockenschlag im Nebel. "Das ist ein Andenken. An meine Frau. Die hab ich vor vielen Jahren verloren. Diese Münze… die hat sie mir am Tag unserer Hochzeit geschenkt. Jeden Morgen hab ich sie in die Hand genommen. Und jeden Morgen hab ich gewusst, dass sie immer noch da ist, irgendwo. Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn dir jemand so etwas nimmt?"

Leo schluckte schwer. Er wusste es nicht. Er hatte nie etwas so Wertvolles gehabt, außer vielleicht seine Freiheit, und die hatte er sich selbst genommen. Er hatte nie verstanden, dass ein kleines Stück Metall so viel bedeuten konnte. Es war nicht der materielle Wert, das sah er jetzt. Es war etwas anderes. Eine Schuld, die schwerer wog als jede gestohlene Konsole. Ein Gefühl, das ihn zum ersten Mal wirklich traf.

"Es geht nicht ums Geld, Leo", fuhr Herr Weber fort, als ob er Leos Gedanken lesen könnte. "Es geht darum, was Dinge für die Seele bedeuten. Und darum, was es mit deiner Seele macht, wenn du dir einfach nimmst, was nicht deins ist." Er streckte die Hand aus, aber nicht nach der Münze. Seine knochigen, warmen Finger legten sich sanft, aber fest um Leos Handgelenk. Die Berührung war ungewohnt, eine Welle der Zärtlichkeit, die Leo nicht kannte – und die ihn gleichzeitig irritierte und tief im Innersten berührte. Ein scharfer Kontrast zu den kalten Handschellen oder den groben Berührungen in der Gang.

"Du hast da etwas in dir, Leo. Ich spüre das. Du bist nicht wie die anderen, die nur nehmen. Aber du versteckst dich. Warum?"

Rückblende: Leo war sechs Jahre alt. Das Wohnzimmer seiner Mutter roch nach Zigarettenrauch und billigem Parfüm. Sie hatte mal wieder einen glänzenden Fernseher gekauft, den sie sich kaum leisten konnte. Leo war stolz darauf, hatte die glatte Oberfläche bewundert. Doch als ein Cousin zu Besuch kam, hatte dieser unabsichtlich einen Ball gegen den Bildschirm geschleudert. Ein zackiger Riss fraß sich über den Bildschirm.

Seine Mutter schimpfte nicht. Sie weinte. Leise. Hilflos. Leo hatte es nicht verstanden. Es war doch nur ein Fernseher, eine tote Kiste. Aber er hatte die Traurigkeit in ihren Augen gesehen – diese Ohnmacht, die ihn zum ersten Mal mit dem Gefühl von Verlust in Berührung brachte. Es war nicht der Gegenstand, der wehtat. Es war das Gefühl, etwas Unersetzliches verloren zu haben.

Damals hatte er sich geschworen, nie wieder etwas zu besitzen, das ihm so wehtun könnte, wenn es zerbrach oder weggenommen wurde. Er wollte niemals so hilflos sein wie seine Mutter in diesem Moment.

"Warum tust du das, Leo?", wiederholte Herr Weber sanft, seine Hand immer noch auf Leos Handgelenk. "Du bist jung. Du hast noch so viel vor dir. Verschwende es nicht."

Die Frage bohrte sich in Leos Innerstes, traf einen Nerv, von dem er nicht wusste, dass er existierte. Er hatte keine Antwort. Er hatte nie darüber nachgedacht, warum er tat, was er tat. Es war einfach so. Gewohnheit. Überlebensstrategie. Seine Art, sich durchzuschlagen.

In den folgenden Tagen geschah etwas Unerwartetes. Herr Weber bat Leo immer wieder, in sein Zimmer zu kommen. Nicht, um ihn anzuleiten, sondern um zu reden.

Zuerst waren es nur knappe Antworten von Leo, genervte Monosyllables. "Ja." "Nein." "Weiß nicht." Er schnippte mit den Fingern auf seinem Handy.

Aber Herr Weber gab nicht auf. Er erzählte von seinem Leben, von früher, von seiner Zeit als junger Mann in der Nachkriegszeit, von seiner Arbeit als Schlosser, von seiner Frau.

Gelegentlich war auch Sarah dabei. Sie trat leise ein, brachte Tee oder kontrollierte Medikamente, doch nie störte sie die Gespräche. Manchmal blieb sie einen Moment stehen, hörte zu, sah Leo an – und in diesen Blicken lag kein Urteil, sondern ein stilles Einverständnis. Als wolle sie sagen: Ich sehe dich. Ich sehe, dass du dich veränderst.

Er sprach von Enttäuschungen und kleinen Triumphen. Von Dingen, die blieben – und solchen, die ihn geprägt hatten. Von harter Arbeit und dem Wert von Dingen, die man sich selbst erarbeitete.

"Ich hab auch Fehler gemacht, Leo", sagte Herr Weber eines Nachmittags, als Leo widerwillig ein Regal abstaubte, das nach altem Holz roch. "Jeder macht Fehler. Aber das Wichtigste ist, daraus zu lernen. Und nicht immer denselben Mist wiederholen."

Leo lauschte, ohne es wirklich zu wollen. Er war überrascht, wie ruhig die Stimme des alten Mannes war – wie wenig er verurteilte. Es war, als würde er nicht zu ihm, dem "Problemkind", sprechen, sondern zu einem Menschen, den er ernst nahm.

Die ersten zögerlichen Antworten entflohen Leos Lippen. Er erzählte nichts Großes, nur kleine Beobachtungen aus seinem Alltag: wie der Bus morgens immer zu spät kam, wie laut die Sirenen nachts waren, oder die seltsamen Marotten der anderen Bewohner.

Und Herr Weber hörte zu. Wirklich zu.

Seine Augen zeigten Anteilnahme, kein Urteil.

Es war ein ungewohntes Gefühl, das Leo nicht einordnen konnte, aber es war nicht unangenehm.

Ein feiner Riss zog sich durch die Mauer um seine Seele. Gerade breit genug, dass erstes Licht hindurchsickerte.

Und Leo fragte sich, ob er es zulassen sollte.