Der Junge von Nebenan
Kapitel 4: Ankunft in einer fremden Welt
Der Geruch schlug Leo entgegen, noch bevor er die schwere Tür zum Seniorenheim Abendrot richtig aufgestoßen hatte: eine beißende Mischung aus Desinfektionsmittel, dem dumpfen, kaum zu verbergenden Aroma von Urin, das trotz aller Sauberkeit in den Fasern der Luft zu hängen schien, und einem eigenartigen, süßlichen Duft von abgestandenem Kaffee und vergessenen Blumen. Es war das genaue Gegenteil der staubigen Straßen, der scharfen Abgase und der stickigen Gerüche seiner Plattenbausiedlung. Hier war alles gedämpft, leise – eine Welt in Zeitlupe, in der das leise Knarren von Rollstühlen und gelegentliches Husten die einzige Geräuschkulisse bildeten.
Leos Kapuzenpullover, der so viele Geheimnisse barg, saß lose über seinem schlanken Körper. Die ausgefranste Jeans und die alten Adidas-Sneaker waren wie eine zweite Haut – sichtbar anders. Ein vergilbtes Schild mit der Aufschrift "Bitte klingeln" wies auf einen Knopf an der Seite der Infotheke. Leo drückte darauf und wartete. Zehn Sekunden. Zwanzig. Nichts. Er wollte schon wieder gehen – da entriegelte ein leises Surren die Tür. Eine Frau im Schwesternkittel trat heraus.
Frau Wagner war Mitte fünfzig, ihr wettergegerbtes Gesicht von Nachtschichten, Schmerz und Geduld gezeichnet. Ihre Schultern waren breit vom Heben und Schieben, ihr Blick wach, aber abgeklärt. Der makellose Kittel konnte nicht verbergen, wie müde ihre Augen waren.
"Leo Baumgartner? Sozialstunden? Dann komm mal rein." Ihre Stimme war nicht unfreundlich, aber routiniert. Kein Zynismus, kein Interesse – nur Funktion.
Sie führte ihn durch einen Flur, der mit Bildern von Sonnenblumen und Pappmaché-Kunst dekoriert war. Überall standen Rollatoren wie gestrandete Tiere. Die Luft roch nach Zeit. Leo empfand Beklemmung. Hier gab es nichts Schnelllebiges. Kein Fluchtweg. Nur Warten.
In einem kleinen Büro, das nach Akten und kaltem Kaffee roch, setzte sich Frau Wagner ihm gegenüber. Auf dem Tisch lag bereits eine Mappe mit seinem Namen.
"Also. Hier wird gearbeitet. Nicht gespielt. Siehst du diese Leute da draußen?" Sie deutete mit dem Kinn auf den Flur. "Viele von denen waren mal jemand. Lehrer. Schneider. Ingenieure. Jetzt brauchen sie Hilfe. Und Respekt."
Leo verschränkte die Arme. "Ich bin nicht hier, um Freundschaften zu schließen."
Frau Wagner hob leicht eine Braue. "Ich auch nicht. Ich bin seit dreißig Jahren in diesem Job. Ich habe Leute sterben sehen, lachen, kämpfen. Ich erkenne, wenn jemand was spielt. Also: Ich schau nicht auf deine Akte. Ich schau auf dein Verhalten."
In den nächsten Tagen lernte Leo auch Sarah kennen. Eine junge Pflegerin mit stiller Präsenz. Ihre langen, dunklen Haare trug sie streng nach hinten gebunden, ihre Bewegungen waren leise, aber bestimmt. Sie sprach wenig, aber immer klar. Leo hörte, dass sie aus Syrien kam. Geflohen. Über Umwege hierher. Doch sie sprach nie über Mitleid. Nur über Aufgaben. Und darüber, dass man Menschen nicht behandeln sollte wie Dinge.
Sarah beobachtete Leo. Nicht streng, sondern aufmerksam. Sie war der erste Mensch seit Langem, bei dem Leo das Gefühl hatte, dass sie ihn durchschaute – ohne ihn zu verurteilen. Manchmal, wenn sie Patienten die Hand hielt oder Wunden versorgte, stand Leo still da, als würde er etwas lernen, das nicht in Worte zu fassen war.
Doch Leo verweigerte sich weiter. Er vergaß Botengänge, ließ Tablettwagen stehen, ließ sich auf nichts ein. Wenn Sarah ihn ansprach, antwortete er knapp. Wenn Frau Wagner ihn ermahnte, verdrehte er die Augen. Einmal ließ er absichtlich ein Tablett auf den Boden kippen. Niemand schrie. Nur ein Seufzen von Frau Wagner: "Du wirst schon noch merken, worum es hier geht."
Und dann war da Herr Weber.
Ein alter Mann mit schlohweißem Haar, wachem Blick und feinen Zügen. Früher Lehrer, wie Leo später erfuhr. Einer, der sich das Denken nie abgewöhnt hatte. Leo sollte in seinem Zimmer Fenster putzen. Herr Weber saß im Rollstuhl, eine Zeitung auf dem Schoß, seine Hände ruhig. Er sagte nichts, aber beobachtete Leo aufmerksam.
Leo sah die goldene Münze auf dem Nachttisch. Kein großer Wert – aber glänzend, alt. Ein Sammlerstück? Er wartete, bis Herr Weber die Augen schloss. Leo griff zu – da sprach die Stimme hinter ihm:
"Die ist nicht für dich."
Leo zuckte zusammen. Herr Weber blickte ihn an. Kein Zorn. Nur eine ruhige Enttäuschung.
Leo brachte die Münze zurück. Es war das erste Mal, dass er sich ertappt fühlte – nicht wegen der Tat, sondern weil jemand ihn wirklich gesehen hatte.
In dieser Stille, zwischen Sarahs Blicken, Frau Wagners Seufzen und Herrn Webers aufrechtem Schweigen, begann etwas in ihm zu kippen. Noch nicht Einsicht. Aber ein erstes Innehalten. Ein Widerstand gegen den Widerstand.
Und vielleicht – ganz leise – ein Anfang.