Der Junge von Nebenan
Kapitel 38: Neue Gesichter, alte Fragen
Der Raum war noch nicht fertig, aber er lebte. Jeden Tag ein bisschen mehr. Die matten Fenster warfen schräges Licht auf den Boden, und darin bewegten sich jetzt Schatten – echte, lebendige, unperfekte. Kinderbeine, schiefe Tritte, halblaute Stimmen. Und Leo mittendrin.
Er hatte keinen Plan geschrieben. Kein Curriculum, kein pädagogisches Konzept. Nur einen Gedanken: Wenn du fällst, steh auf – und nimm jemanden mit.
Ayla war schnell geworden. Ihre Schläge kamen ungestüm, aber mit Herz. Wenn sie verlor, lachte sie nicht – sie knirschte mit den Zähnen. Und stand wieder auf. Sie hatte einen kleinen Bruder, sagte sie irgendwann. "Er guckt von außen zu. Noch."
Eren redete kaum. Doch wenn er trainierte, war da eine stille Präzision, die Leo faszinierte. Als würde er alles verstehen, ohne es zu sagen. Nach dem Training saß er oft in der Ecke und blätterte in seinem Notizbuch. Nicht schreiben – nur blättern. Leo fragte nicht.
Die Gruppe wuchs. Drei, dann fünf, dann neun. Es sprach sich rum – ohne Werbung, ohne Social Media. Mund zu Ohr. Blick zu Blick.
David kam manchmal vorbei. Prüfend, schweigend, dann ein kurzes Nicken. "Du bringst ihnen mehr bei, als du denkst", sagte er beim Gehen.
Aber nicht alles war leicht.
Einer der Jungen, Tarik, kam ein paar Mal nicht. Als Leo ihn auf der Straße sah, hatte er eine aufgeplatzte Lippe. Und einen leeren Blick.
"Ist nichts", sagte Tarik. Doch Leo wusste es besser.
Am Abend saß er allein im Raum, das Licht schräg auf seinem Gesicht. Malik war noch immer nicht aufgetaucht. Und Leo fragte sich: Wie weit reicht eine ausgestreckte Hand? Und was, wenn sie niemand ergreift?
Er schrieb:
"Manche brauchen keinen Unterricht.
Sondern jemanden, der bleibt."