Der Junge von Nebenan 

Kapitel 35: Rückkehr nach Leipzig


Die Stadt war dieselbe geblieben. Dieselben grauen Fassaden, dieselben flackernden Straßenlaternen, dieselben Gesichter in der S-Bahn, die schwiegen wie immer. Und doch: Als Leo ausstieg, war etwas anders. Nicht die Welt – aber sein Blick auf sie.

Er hatte nichts Großes dabei. Nur einen Rucksack, ein paar Unterlagen, Trainingskleidung. Und eine Idee, die noch nicht reif war, aber leise Wurzeln schlug.

Die Schuhe klackten auf dem Pflaster seines alten Viertels. Ein paar Jungs standen an der Mauer, genau dort, wo er früher gestanden hatte. Ein flüchtiger Blickkontakt, ein kaum merkliches Nicken. Kein Urteil. Kein Gruß. Nur dieses kurze Innehalten: "Den kenn ich doch."

Leo lief weiter. Vorbei an dem Laden, dessen Scheiben mit Folie beklebt waren. Vorbei an der Ecke, an der er früher gewartet hatte, ohne Ziel. Vorbei an der Hauswand, auf der noch immer sein alter Schriftzug zu erkennen war – halb übermalt, halb vergessen.

Er kam nicht zurück, um sich zu beweisen. Er kam, um zu beginnen.

David wartete schon im Jugendzentrum. Der alte Turnraum war leergeräumt, die Matten lagen ordentlich gestapelt am Rand, in der Ecke ein alter Boxsack. Der Geruch von Schweiß und Desinfektionsmittel – vertraut.

"Bereit?", fragte David.

Leo nickte. "Bereiter denn je."

Sie trugen die Matten in die Mitte. Keine Bühne, kein Applaus. Nur Hände, die zupackten, und Gedanken, die leise vibrierten.

Dann kamen sie. Erst zögerlich, dann mehr: drei Jungs aus dem Viertel, ein Mädchen mit ernster Miene, zwei Brüder, kaum älter als zehn. Einer trug noch seine Schuluniform. Einer kaute Kaugummi, als wäre es eine Waffe.

Leo stellte sich vor sie. Kein großes Gerede. Kein Vortrag. Nur ein Blick, der sagte: Ich war mal wie ihr. Vielleicht bin ich es immer noch.

Er zeigte die erste Übung. Langsam, klar. Er ging zu jedem Einzelnen, korrigierte mit leiser Stimme, nicht mit Lautstärke. Und als der Kleinste hinfiel und wütend auf den Boden schlug, kniete Leo sich neben ihn.

"Weißt du, worauf's ankommt?"

Der Junge schüttelte trotzig den Kopf.

"Nicht, ob du fällst. Sondern ob du wieder aufstehst."

Der Junge sah ihn an. Und stand auf. Nicht schnell. Aber bewusst.

Später am Abend, als alle gegangen waren, saß Leo noch immer in der Halle. Allein. Das Licht flackerte über den Boden, als hätte es selbst zu viel gesehen. In seiner Hand hielt er das alte Notizbuch. Die Seiten waren voller Gedanken, Sätze, Bilder. Ein halbes Leben in Tinte.

Er blätterte zurück. Zu dem Satz, den er einst geschrieben hatte: "Ich gehe weiter – aber ich nehme euch mit."

Er fuhr mit dem Finger darüber, als wollte er ihn erneuern.

Dann nahm er den Stift. Und schrieb einen neuen Satz darunter:

"Manchmal ist Weitergehen auch Zurückkommen. Und Anfangen."

Er klappte das Buch zu.

Draußen dämmerte es.

Drinnen begann etwas.