Der Junge von Nebenan

Kapitel 34: Das Gespräch


Der Flur roch nach Kaffee, alten Akten und frischer Farbe – eine seltsame Mischung aus Alltag und Aufbruch. Leo saß auf dem Stuhl vor dem kleinen Büro von Herrn Klement, das Licht fiel schräg durch das Milchglas der Tür, auf dem in schlichten Lettern "Projektbüro – Perspektive durch Bewegung, Stuttgart" stand. In der Hand hielt er einen Zettel, halb zerknittert, halb Symbol. Die Einladung. Doch es war mehr gewesen als ein Formular – es war der Anfang gewesen.

"Leo, komm rein."

Herr Klements Stimme war ruhig, aber klar, wie ein Ton, der sich Raum nahm. Leo trat ein. Das Büro war schlicht: ein Schreibtisch, ein Bücherregal, eine große Pinnwand mit Fotos und Notizen. Menschen in Bewegung. Menschen in Entwicklung.

Sie setzten sich. Für einen Moment war nur das Ticken einer Wanduhr zu hören.

"Du hast dich gefragt, warum wir dich eingeladen haben, oder?" fragte Herr Klement ohne Umwege.

Leo zuckte mit den Schultern, aber sein Blick wich nicht aus. "Ein bisschen schon, ja. Ich dachte… sowas ist nicht für Leute wie mich."

Herr Klement lächelte nur leicht. Dann drehte er eine Fotografie auf dem Schreibtisch um. Es zeigte Leo – auf der Matte, beim letzten Training, der Arm ausgestreckt, die Hand offen, nicht zum Schlag, sondern zum Stopp.

"Ich habe lange nicht so etwas gesehen", sagte er. "Du hast nicht gekämpft, um zu siegen. Du hast gekämpft, um zu schützen. Dich. Und das, was du bewahrst. Das ist selten. Und es ist wertvoll."

Leo schwieg. Aber in seiner Brust bewegte sich etwas, ein leises Echo von Stolz und Zweifel.

"David, dein Trainer aus Leipzig, hat dich empfohlen. Und ich habe mich informiert", fuhr Klement fort. "Die Geschichte mit deiner Bewährung. Dein Weg. Dein Mut, nicht wegzulaufen. Und dann dein Wunsch, weiterzugeben, was du gelernt hast." Er lehnte sich zurück. "Wir brauchen keine perfekten Lebensläufe. Wir brauchen Menschen, die Wandel verstehen. Von innen heraus."

Leo nickte langsam. Und dann kam der Gedanke, der ihn seit Tagen begleitet hatte, wie ein Schatten, der zur Frage wurde.

"Was wäre, wenn ich das, was ich hier lerne… zurückbringe? In mein Viertel. Zu den Jungs, die noch nicht wissen, dass sie mehr sein könnten. Zu denen, die gerade anfangen zu glauben, dass niemand sie sieht."

Herr Klement schwieg einen Moment, legte dann die Finger aneinander. "Du willst eine Brücke schlagen."

"Ja", sagte Leo. "Ich will was aufbauen. Nicht allein. Aber ich will anfangen."

Ein Nicken. Nicht vorschnell, nicht symbolisch. Sondern ernst.

"Dann lass uns reden. Und planen. Vielleicht fangen wir nicht groß an. Aber wir fangen an."

Leo spürte, wie sich etwas in ihm löste – nicht wie ein Knoten, sondern wie ein Tor, das langsam aufschwang. Dies war kein Ende. Es war der Moment, in dem ein Kreis sich zu einer Linie spannte, in die Zukunft.

Draußen rauschte der Wind durch die Straßen. Und Leo dachte an Malik.