Der Junge von Nebenan
Kapitel 32: Rückkehr ohne Worte
Der November zog in die Stadt wie ein alter, schwerer Mantel. Alles war gedämpft – das Licht, die Geräusche, selbst die Stimmen schienen leiser. Leo war wieder im Training, im Unterricht, in seinem eigenen Takt. Aber ein Teil von ihm blieb draußen, bei den Straßen, an den Mauern, in den Zwischenräumen, wo Malik einmal gewesen war.
Er wartete nicht mehr aktiv. Aber er hörte hin. Auf das Schweigen. Auf die Lücken im Rauschen des Alltags. Manchmal meinte er, etwas zu sehen – eine Bewegung, ein Gesicht im Busfenster, ein Schatten am Bahnsteig. Aber es war nie Malik.
Bis zu jenem Dienstagabend.
Leo hatte das Training gerade beendet. Die Halle war fast leer, der Boden noch warm vom Kampf. Draußen fiel feiner Nieselregen. Er zog die Kapuze über, ging hinaus, ließ den Tag los.
Vor dem Eingang stand jemand.
Kein Geräusch. Kein Gruß. Nur eine Silhouette. Breitbeinig. Schultern eingezogen. Eine Plastiktüte in der Hand.
Leo blieb stehen. Der Wind zerrte an seinem Jackensaum. Es dauerte einen Moment, bis er etwas sagen konnte.
"Du bist also doch zurück."
Malik hob den Kopf, langsam. Seine Augen lagen tief, wie hinter Glas. Blass. Verwaschen. Kein Lächeln. Kein Trotz.
Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Nur Stille.
"Ich hab gedacht, du bist ganz weg", sagte Leo.
Malik zuckte mit den Schultern. "War ich auch. Irgendwie."
Er reichte Leo die Tüte. Ohne Erklärung.
Darin: ein Paar alte Boxhandschuhe. Die, mit denen sie früher heimlich draußen in Hinterhöfen trainiert hatten. Rissig. Abgenutzt. Aber immer noch fest.
"Ich hab sie behalten", sagte Malik. "Hab gedacht, vielleicht brauch ich sie wieder."
Leo nickte. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Alles, was gesagt werden musste, war schon da – in der Art, wie Malik dastand. In der Tatsache, dass er da war. Nicht stark. Nicht stolz. Aber da.
"Komm rein", sagte Leo schließlich.
Malik schüttelte den Kopf. "Noch nicht. Vielleicht morgen."
"Dann morgen."
Sie standen noch eine Weile da. Unter dem stillen Regen. Zwei Schatten. Zwei Erinnerungen. Zwei Anfänge.
Dann drehte sich Malik um und ging. Langsam. Nicht fliehend. Nicht suchend. Sondern tastend – wie jemand, der den Weg nicht kennt, aber den ersten Schritt gemacht hat.
In der Halle blieb das Licht noch ein wenig länger an als sonst.
Leo saß auf der Bank, die Handschuhe neben sich.
Und zum ersten Mal seit langem fühlte es sich nicht mehr wie Warten an.
Sondern wie Hoffnung.